# taz.de -- Wieso sich die wilhelmsburger*innen über Fahrraddiebstahl nicht ma… | |
Inselstatus Leyla Yenirce | |
Liebe Insel, ich kann es ja irgendwie verstehen. Wer sein kostbares Rennrad | |
über Nacht draußen stehen lässt, ist selbst schuld. Aber hätte man mir | |
nicht wenigstens das bisschen Würde lassen und das zerbrochene Schloss in | |
den Busch werfen können? Stattdessen lag es da, entzweit und leblos am | |
Boden als Relikt meiner Nachlässigkeit. Ätschibätsch! wollten mir die Diebe | |
damit wohl sagen. Aber ja, es ist halt ein Nehmen und Geben mit den | |
Fahrrädern in der Großstadt und selbst wer doppelt und dreifach abschließt, | |
ist vor keinem/keiner Dieb*in sicher, denn der Bolzenschneider bekommt sie | |
alle. | |
Bemerkenswert ist: Fahrraddiebstahl ist für mich so normal geworden sind, | |
dass ich mich nicht Mal mehr richtig darüber ärgern kann. Denn in meinem | |
Leben habe ich mit Sicherheit schon mehr als 20 Räder besessen und ich weiß | |
mittlerweile, dass ich lieber nicht zu viel ausgebe, denn das neue Rad | |
könnte am nächsten Tag weg sein. Traurig ist: Wer in Wilhelmsburg lebt, hat | |
es ohne Rad schwer. Trotzdem rate ich, nicht allzu lange zornig zu sein, | |
sondern sich einfach ein neues Rad zu besorgen. | |
Wer Glück hat, findet sein oder ihr Rad ein paar Straßen weiter in einem | |
Busch, weil jemand Betrunkenes einfach nur irgendwie nach Hause kommen | |
wollte und das Rad auf halber Strecke dann doch hat liegen lassen. Wer Pech | |
hat, ist dem organisierten Diebstahl zum Opfer gefallen und kann im besten | |
Falle das Rad ein paar Tage später bei Ebay Kleinanzeigen zurückkaufen, wo | |
es unter einem Pseudonym verscherbelt wird – alles schon erlebt. | |
Manche Diebe werden auch richtig kreativ, so wie bei meiner Nachbarin, die | |
ihr Rad wenige Tage nach dem Diebstahl in frischem Lack und mit anderen | |
Schloss vor der Tür fand. In solchen Moment kann man sich freuen und mit | |
gutem Gewissen zurückstehlen. Gehörte ja eigentlich einem selbst. | |
Es ist nie ein schönes Gefühl, bestohlen zu werden, aber noch unschöner | |
ist, dass manche Menschen zum Überleben stehlen müssen oder das Bedürfnis | |
haben, etwas zu stehlen. Es wäre ja schön, wenn wir hier alle so | |
wohlständig wären, dass wir unbekümmert unsere Räder draußen stehen lassen | |
können, weil wir wissen: Es geht den Menschen so gut geht, dass sie es gar | |
nicht nötig haben, jemandem etwas wegzunehmen. Aber leider leben wir ja | |
nicht in Utopia. | |
Deswegen trage ich es dir und deinen Bewohner*innen das auch nicht lange | |
nach, liebe Insel. Stattdessen rüge ich lieber mich selbst. Ich weiß, dass | |
ich zu faul war. Ich hätte mein Rad auch noch in den Hausflur stellen | |
können, aber dann war Netflix schon an und draußen hatte es so dolle | |
geregnet. | |
Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus | |
Wilhelmsburg über Spießer*innen, Linke, Gentrifizierer*innen und den | |
urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie. | |
11 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Leyla Yenirce | |
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