# taz.de -- Warum Wilhelmsburg eigentlich ein nur ein Stadtteil für den Sommer… | |
Inselstatus Leyla Yenirce | |
Liebe Insel, ich mag es kaum aussprechen, aber es ist wohl soweit. Der | |
Herbst hatte sich dieses Jahr ohnehin schon im Juli angekündigt und ja die | |
Sonnentage waren an zwei Hönden abzählbar. | |
Eigentlich müsste es doch so sein: im Sommer auf der Insel wohnen und im | |
Winter auf St. Pauli. Wer behauptet, Wilhelmsburg sei ein Sommerstadtteil, | |
hat vollkommen Recht. Und nun neigt sich der Sommer dem Ende zu. Was das | |
für uns Anwohner*innen bedeutet? Auf jeden Fall nichts, das mit Radsport | |
oder Kajakfahren im Kanal zu tun hat. Neben der Heterogenität der | |
Anwohner*innenschaft und bezahlbaren Mieten ist es ja bekannterweise das | |
Grüne, das Wilhelmsburg so schön macht. Aber was bringt es einem, wenn man | |
es nicht mehr richtig genießen kann, weil es schlichtweg zu kalt und nass | |
ist? | |
In diesem Fall bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich Strategien für | |
den Winter zu überlegen. Die Regenhose mag im Herbst noch Stand halten, | |
aber spätestens, wenn der erste Schnee fällt und alle Radwege durch den | |
Hafen mit Splitt und Streusand zugeschüttet sind, schafft es kein | |
Fahrradreifen dieser Welt ohne Platten bis zum alten Elbtunnel, auch nicht | |
die mit dem Prädikat „unplattbar“. In der Bahn ist es gewöhnlich dann | |
ziemlich voll und ungemütlich. Selbst wer einen Sitzplatz ergattert, | |
fürchtet die Ansteckgefahr, denn es wird im Chor geröchelt, während sich 20 | |
Menschen gleichzeitig auf einer Fläche von acht Quadratmetern durch die | |
Stadt bewegen. | |
Das Sommerende ist auch im Stadtteil sichtbar, denn die Menschen in | |
Wilhelmsburg ziehen sich wieder in ihre kleinen Wohnungen zurück. Spielende | |
Kinder auf öffentlichen Plätzen verschwinden allmählich von der Bildfläche | |
ebenso wie die vielen Jugendlichen, die auf den Straßen abhängen. Nur die | |
Alkoholiker*innen zeigen sich wetterresistent, auch bei Wind und Regen | |
trinken sie draußen noch ihre Biere. Der Alkohol hält warm, aber macht | |
krank. | |
Für den anstehenden Herbst und Winter rate ich deswegen erst mal, die Insel | |
nicht mehr zu verlassen. Selbst wenn man sich den Weg auf die andere Seite | |
zutraut, gilt es ja auch zurückzukommen und nach 23 Uhr kann das mehr als | |
eine Stunde dauern und im schlimmsten Falle steht man dabei die Hälfte der | |
Zeit auf Bahnsteigen und friert sich den Hintern ab. | |
Aber sehen wir es mal so, niemand muss mehr Sonnenblumenkernschalen von den | |
Straßen fegen und der platte Reifen stört auch nicht mehr, denn das Rad | |
kann jetzt entspannt im Keller vor sich hinrosten, bis zum nächsten Sommer. | |
Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus | |
Wilhelmsburg über Spießer*innen, Linke, Gentrifizierer*innen und den | |
urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie. | |
4 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Leyla Yenirce | |
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