# taz.de -- Rauchen, Essen, Porno, Melonen | |
> LEIWAND Einer der größten Magiers des zeitgenössischen Kinos: Die | |
> Retrospektive „Anatomie der Einsamkeit – Die Filme von Tsai Ming-liang… | |
> im Arsenal zeigt auch queeres Begehren und sein teilweises Scheitern | |
Bild: Hsiao-kang, ein obdachloser Urnen-Vertreter, hat es in „Vive L’Amour�… | |
von Toby Ashraf | |
Man solle in seinen Filmen nicht so sehr eine Geschichte fühlen, sondern | |
das Leben, denn es gehe um einfache, triviale Dinge, sagt der in Malaysia | |
geborene, taiwanesische Regisseur Tsai Ming-liang über sein Werk. | |
Tatsächlich ergibt es Sinn, sich bei seinen Filmen nicht an kohärente | |
Narrationen zu klammern oder nach Erklärungen zu fragen, sondern die | |
atemberaubenden Bilder eines der größten Magiers des zeitgenössischen Kinos | |
für sich stehen zu lassen. | |
Das Kino Arsenal zeigt jetzt in chronologischer Reihenfolge eine | |
Retrospektive der zwölf Kinofilme Tsai Ming-liangs unter dem Titel | |
„Anatomie der Einsamkeit“. Das ist tatsächlich eine Besonderheit, denn | |
trotz der über 50 internationalen Filmpreise und des anhaltenden Lobes der | |
Filmkritik für Tsai Ming-liang hat bislang nur ein einziger seiner Filme | |
einen deutschen Verleih gefunden. Als Festivalliebling, Künstler und Autor | |
bleibt Ming-liang ein Magier, dessen Zauber sich bislang zu selten | |
ausbreiten durfte. | |
Nehmen wir die Wassermelone. In „Vive L’Amour“ (1994), dem zweiten und | |
bereits mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig | |
ausgezeichneten Langfilm Tsai Ming-liangs, sehen wir, wie die Hauptfigur | |
Hsiao-kang eine luxuriöse Wohnung, zu der er eigentlich keinen Zutritt | |
haben dürfte, betritt und im Dunkeln voller Begehren eine Melone küsst. | |
Langsam schält Hsiao-kang drei Löcher aus der Schale, um die Melone | |
schließlich als Bowlingkugel einmal durch die Wohnung zu rollen. Die Melone | |
zerbricht. Hsiao-kang jubelt. Warum der obdachlose Vertreter für ein | |
Urnenunternehmen Taipehs dies tut, bleibt unklar, aber wunderbar | |
anzusehen, magisch und wunderbar rätselhaft. | |
Motivation, Psychologie, Sprache und Biografie der Figuren sind in den | |
Filmen Tsai Ming-liangs nicht nur nebensächlich, sondern bewusst etwas | |
anderem untergeordnet – dem Leben, wenn man den Regisseur beim Wort nimmt – | |
oder der Poesie seiner Bildsprache, wenn man einen Schritt weitergehen | |
möchte. | |
Kameramann Pen-Jung Liao, der für fast alle Filme Tsai Ming-liangs | |
verantwortlich zeichnet, schneidet das Bild oft in der Mitte entzwei oder | |
erweitert es durch die Tiefe eines Korridors, durch den seine Figuren | |
gehen. Seine Fluchten bieten keinen Ausweg für die Menschen, die meist in | |
Taipeh leben (darunter in jedem Film: der Darsteller Kang-sheng Lee), | |
entweder einen sehr spezifischen Beruf haben oder gar keinen und immer | |
irgendwie nach Verbindung zu anderen suchen. | |
Überflutete Wohnungen, masturbierende oder weinende Menschen, | |
Wassermelonen, Feuerlöscher, Flure, verwundete Körper und Plastikflaschen | |
bieten die Eckpfeiler eines filmischen Universums, in dem Tsai Ming-liang | |
sich selbst zitiert, seine Ideen fortschreibt. | |
In formal strengen Bildern tauchen wir bereits mit dem ersten Film („Rebels | |
of the Neon God“) in eine urbane Welt ein, deren Architektur und | |
Konsumangebote die Figuren bestimmen. Rauchen, Essen, Pornografie und | |
Fernsehen gehören immer zum Alltag. Sex ist omnipräsent, queeres Begehren | |
und sein teilweises Scheitern ebenfalls – damals und in Teilen noch heute | |
zwei Tabubrüche Tsai Ming-liangs, gesellschaftlich und filmisch. | |
## Brüchige Geschichten | |
Mit „The Wayward Cloud“ einem antipornografischen Musical, das dramatisch | |
endet, treibt Ming-liang 2005 seine persönlichen Obsessionen atemberaubend | |
unterhaltsam auf die Spitze. In „Stray Dogs“ kulminiert 2013 seine Liebe | |
zur narrativen Reduktion meisterlich in einem kontemplativen Epos über | |
Entfremdung. Mit „Afternoon“ (2015), Tsai Ming-liangs bislang – und | |
vielleicht ewig – letztem Film geht er mit seinem Hauptdarsteller | |
Kang-sheng Lee in Therapie, um seine eigenen Fragen zu ergründen. | |
Vielleicht zeigt Ming-liang in seinen Filmen wirklich die trivialen Dinge, | |
doch käme man nicht nur wegen all seiner brüchigen Geschichten kaum je auf | |
diese Idee. Das Leben, das hier gezeigt wird, spielt zwischen Kriminalität, | |
Inzest, Epidemien, städtischen Bauruinen, Spielautomaten, Schwulensaunen, | |
Straßenmärkten, Garküchen und Krematorien und ist sicher kein Leben, das | |
irgendeine Gemeingültigkeit besäße. Vielmehr besitzt es, wenn es Melonen zu | |
Bowlingkugeln macht, Körper zu Metaphern, eine Magie, der man sich | |
unbedingt chronologisch aussetzen sollte. Einfach ist an Filmen Tsai | |
Ming-liangs erfreulicherweise nichts. | |
„Anatomie der Einsamkeit – Die Filme von Tsai Ming-liang“, Arsenal Kino, … | |
bis 30. September | |
31 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Toby Ashraf | |
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