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# taz.de -- Alltag in der Türkei: Erdoğan als Lifecoach
> Alkohol- und Zigarettenkonsum, Klamotten, Sport und Kindererziehung –
> Erdoğan mischt sich in alle Bereiche des Lebens ein. Und das nicht erst
> seit er Präsident ist.
Bild: Protest-Rauchen gegen Erdoğan
Die Zigarette in der einen, eine Dose Cola in der anderen Hand, lief ich
vor Jahren durch die Gegend, als mich eine unbekannte ältere Frau anhielt
und mir erst die Cola, dann die Fluppe aus der Hand schlug. „Morgens schon
rauchen und auch noch Cola trinken!“, zeterte sie. Diese Szene mag der ein
oder andere befremdlich finden, aber die Mehrzahl der in der Türkei
aufgewachsenen Menschen hat solche Übergriffe schon erlebt.
In meiner Jugend hörte ich auf der Straße ständig Ermahnungen wie: „Lass
dir die Haare schneiden!“, „Zieh dich anständig an!“, „Lauf nicht Hän…
haltend mit deiner Freundin!“ Mädchen waren natürlich noch viel stärker von
solchen Übergriffen betroffen. Irgendwelche Fremden mäkelten ständig an
ihnen herum: die Rocklänge, der Knopf am Kragen, wie sie sitzen, stehen,
reden sollten.
Wir waren die Einmischungen in unser Leben gewöhnt. Es liegt wohl daran,
dass nicht sofort alle verstanden, was es für die Gesellschaft bedeutete,
dass Recep Tayyip Erdoğan in unser Leben trat. Doch schon in seiner Zeit
als Bürgermeister von Istanbul gab es erste Beispiele für sein Interesse am
Privatleben der Leute.
## Das Feuer in Levent
Am 29. Januar 1995 brach in einem Wohnblock im Istanbuler Stadtteil Levent
Feuer aus. Zwei junge Frauen, 25 und 27 Jahre alt, die aus dem Fenster um
Hilfe riefen, kamen vor den Augen der versammelten Zuschauer ums Leben. Die
Feuerwehr hatte anderthalb Stunden bis ins zentral gelegene Levent
gebraucht. Kaum zum Bürgermeister gewählt, hatte Erdoğan die Feuerwehr
umstrukturiert und einen Mann an ihre Spitze gesetzt, der keine Ahnung von
Brandbekämpfung hatte.
Natürlich war Erdoğan nicht bereit, die Verantwortung für die Toten zu
übernehmen, sondern behauptete auch noch, die beiden jungen Frauen seien
betrunken gewesen. Wir wissen bis heute nicht, was es für einen Unterschied
macht, ob die beiden, die starben, weil die Feuerwehr zu spät kam,
betrunken waren oder nicht. Augenscheinlich aber wurde, dass es dem frisch
gebackenen Bürgermeister schnuppe war, dass zwei Menschen gestorben waren,
ihn interessierte viel mehr, ob die beiden Alkohol konsumiert hatten.
## Hass gegen Alkohol
Sein Hass gegen Alkohol wurde mit der Zeit immer deutlicher: Den Touring
Club, der zahlreiche historische Paläste in Istanbul restauriert und mit
Gastronomiebetrieben in touristische Ziele verwandelt hatte, vertrieb er
aus den Einrichtungen und machte sie zu alkoholfreien Zonen. Bei den
jährlichen Festen im Gülhane Park verbot er den Verkauf von Spirituosen und
in kommunal verwalteten Gastronomiebetrieben durfte kein Alkohol mehr
konsumiert werden, das alles bereits zu Beginn seiner Amtszeit.
Als Erdoğan Premierminister wurde, schienen die meisten all das vergessen
zu haben. Heute aber ist Bier in Istanbul so teuer wie sonst kaum irgendwo
auf der Welt. Alkohol ist nicht verboten, doch die „Trink, wenn du dich
traust!“ Politik existiert seit den frühen Zeiten der AKP. Glaubt es also
nicht, wenn jemand sagt, Erdoğan hätte sich in den ersten Jahren seiner
politischen Laufbahn in niemandes Leben eingemischt.
Selbstverständlich zeigte uns unser „Reis“ (liebevolle Ansprache der
Erdoğan-Befürworter, zu deutsch Anführer oder Kapitän, Anm.d.Red.)
Alternativen auf: Er zog unser Nationalgetränk Rakı aus dem Verkehr,
brachte aber dafür das Joghurtgetränk Ayran aufs Tapet. Weintrinkern
empfahl er, Weintrauben zu verzehren.
## Der Zigarettenschachtelnsammler
Erdoğan mischte sich nicht bloß mit Gesetzen und Verordnungen in das Leben
der Menschen ein: Er nimmt auch Leuten, die er unterwegs trifft, die
Zigaretten weg. Ein solcher Vorfall geschah auch vor Angela Merkels Augen.
Bei jeder Gelegenheit rühmt sich Erdoğan über die vermutlich weltweit
größte und einzige „Kollektion von Zigarettenschachteln, die er
passionierten Rauchern gewaltsam weggenommen hat“. Eines der jüngsten
Stücke in der Sammlung stammt vom bulgarischen Außenminister Daniel Mitow.
Na ja, King George V. war ein weltberühmter Briefmarkensammler, die Türkei
hat eben einen Zigarettenschachtelnsammler, was soll’s.
Erdoğan hat es aber nicht allein auf unsere Fluppen und Drinks abgesehen.
Dafür könnte sogar manch freiheitlicher Mitbürger aufgrund des
Gesundheitsrisikos Verständnis haben. Doch Erdoğan befasste sich auch stets
mit unserem äußeren Erscheinungsbild. Einst hatte er dem türkischen Regime
den Kampf angesagt, weil es über die Kopftücher von Abgeordneten,
Beamtinnen und Studentinnen bestimmte, und kam damit an die Macht. Nun aber
will er den Leuten vorschreiben, wie sich zu kleiden und auszusehen haben –
von jungen Mädchen bis hin zu Parlamentsabgeordneten.
Irgendwann empfahl er aus heiterem Himmel, wir sollten uns Schnauzer stehen
lassen, auf der Stelle sprossen sämtlichen männlichen Kabinettsmitgliedern
Schnurrbärte. Bei einigen war das wahrlich kein schöner Anblick.
## Erdoğan der Tausendsassa
Mit unzähligen Themen wie Tattoos von Fußballern, Osmanisch-Kenntnissen von
Serien-Darstellern, der Qualität von Theaterstücken oder dem Talent von
Soap-Drehbuchautoren hat sich Erdoğan schon beschäftigt. Einmal rief er bei
der Volleyball-Nationalmannschaft an und mahnte: „Denkt ans Blocken im
Spiel gegen China!“. Dem Nationalteam der Boxer gab er den Rat: „Vergesst
die Deckung nicht, achtet auf Gegenschläge!“ und vom Team der Ringer
verlangte er den Gegner unbedingt in die Zange zu nehmen. Jüngst erklärte
er einem Fußballspieler, nachdem seine Mannschaft „Fenerbahçe“ „Sturm G…
aus dem Wettbewerb gekickt hatte, wie er besser spielen könnte.
Nicht nur, wie viele Kinder wir zeugen und bekommen sollen, sondern auch,
wie die Geburt vonstatten gehen soll, will Erdoğan bestimmen. Er ist nicht
nur unser aller Familienoberhaupt, sondern auch unser Gynäkologe,
Schulrektor, Hausarzt und Lifecoach. Dabei macht er aber auch deutlich, wo
er sich von anderen totalitären Herrschern unterscheidet: Während andere
Schulkindern selbst verfasste Bücher aufzwingen, sagt unser Chef: „Alle
meine Freunde, die Bücherwürmer waren, hocken jetzt im Elend“ und gibt
Schulkindern den Wink, dass Lesen nichts erstrebenswertes sei.
## Wirtschaftlicher Masterplan
Natürlich wäre es besser gewesen, wenn er sich nicht obendrein noch als
Investitionsberater gegeben hätte. Denn seit seiner Fatwa: „Wer in Devisen
investiert, kommt nicht weiter“ haben Euro und Dollar um fünfzig Prozent an
Wert zugelegt. Selbstverständlich hatte unser großer Anführer auch hierfür
eine Gegenmaßnahme parat: Die Türken in Deutschland sollten in der Türkei
Hochzeit feiern, dann würde der Euro fallen.
Dummerweise ist mir entgangen, ob er dabei gleich mit empfahl, dass die zur
Hochzeit eingeladenen Deutschländer auch ihre Gold- und Geldgeschenke da
lassen sollen. Ich hoffe doch sehr, denn wenn sie den ganzen Schmuck wieder
mitnehmen, scheint mir die Sache wenig sinnhaft.
Am besten schicke ich diesen Text vor der Veröffentlichung erst einmal ans
Präsidialamt. Kann ja sein, dass Rechtschreibfehler oder unerwünschte
Formulierungen drinstehen. Vielleicht hat der „Reis“ noch ein paar
Verbesserungsvorschläge. Falls ihm der Text gefällt, bekommt ihr ihn auch
zu lesen.
13 Aug 2017
## AUTOREN
Barış Uygur
## TAGS
taz.gazete
Schwerpunkt Türkei
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