| # taz.de -- Die Wahrheit: Schüchterner Handtaschendieb | |
| > In Hannover von einem jungen Mann angesprochen zu werden, weil der einen | |
| > für attraktiv hält, ist absurd. Oder vielleicht doch nicht …? | |
| Neulich war ich in Hannover. Dort gibt es einen netten Plattenladen in | |
| Bahnhofsnähe, dem statte ich stets rituell einen Besuch ab. Nun stand ich | |
| da also in der Independent-Ecke und kramte eine ganze Weile in den | |
| zahlreichen Neuerscheinungen herum, als mich ein junger Mann, | |
| schätzungsweise Mitte zwanzig, nach sichtbarer Überwindung vorsichtig | |
| ansprach: „Entschuldigung, dass ich dich einfach so anspreche, aber … äh �… | |
| normalerweise mache ich so etwas nicht, aber … äääh … also, du bist mir | |
| echt voll aufgefallen und … jetzt bin ich ein bisschen aufgeregt, aber ich | |
| wollte mal fragen … ääääh … ma’n Kaffee trinken, oder so?“ | |
| Obwohl sein Vortrag nicht länger als fünfundzwanzig Sekunden dauerte, | |
| schossen mir folgende Gedanken durch den Kopf: Der will bestimmt meine | |
| Handtasche klauen! Aber dafür steht er viel zu weit weg! Wie ungeschickt | |
| ist der eigentlich? Merkwürdig. Oder versucht der eine andere Masche? Er | |
| sieht zwar ganz gesund aus, keine Nadeln im Arm, ganz gute Zähne, also | |
| vermutlich nicht auf Crack. Was will er also?! | |
| Der junge Mann sah mich verunsichert an. Ich stierte zurück. Wir starrten | |
| uns mehrere Sekunden, die sich sehr in die Länge zogen, an, bis er einen | |
| erneuten Vorstoß wagte: „Speak English? Wanna go for a coffee … irgendwann | |
| mal?“ Ich: „Nein!“ Er, nach einer weiteren stillen Schrecksekunde: „Ach… | |
| Okay. Entschuldigung!“ | |
| Er wendete sich ab, bereit zu gehen. Erst in diesem Moment erwog mein | |
| Unterbewusstsein die Möglichkeit, dass er vielleicht einfach nur das | |
| gemeint hatte, wonach er fragte. Womöglich wollte er tatsächlich mit mir | |
| einen Kaffee trinken, weil er mich … attraktiv fand. Es erschien mir | |
| absurd, gleichzeitig fand ich die Tatsache, dass ich sein Vorhaben absurd | |
| fand, sehr bestürzend. Ich war völlig verwirrt, antwortete bruchstückhaft: | |
| „Danke. Also echt jetzt. Aber ich … sorry … bin nur kurz in der Stadt und | |
| so. Sorry. Echt. Wegen bald wieder weg und so. Danke. Also fürs | |
| Ansprechen!“ | |
| Ich weiß nicht, wer von uns beiden peinlicher berührt oder dämlicher | |
| guckte, jedenfalls entschuldigte er sich nochmal, lächelte dann ein wenig | |
| und ging. Er hätte mein Sohn sein können, wäre ich mit fünfzehn Mutter | |
| geworden! Aber vielleicht hat er auch gesehen, dass er keine Chance hatte, | |
| an meine Handtasche zu kommen, weil ich sie wie eine Geisteskranke | |
| umklammert hielt. | |
| Meiner Freundin, der ich die Begebenheit schilderte, meinte: „Was? Es hat | |
| dich einer angesprochen? Hier in Hannover?“ Und ein Freund aus Ostwestfalen | |
| fügte ernst hinzu: „Ich denke, es war wirklich ein Krimineller. Wärest du | |
| mit ihm Kaffee trinken gegangen, hätte er dich beklaut. Oder entführt.“ | |
| Sprachs, spülte die Kaffeetasse und schloss in einer eigentümlichen | |
| Prozedur seinen Geschirrschrank ab. Ich bin umgeben von Pessimisten, kein | |
| Wunder, dass ich selbst so negativ eingestellt bin. Am besten, ich spreche | |
| sofort eine wildfremde Person an. Und wenn sie so blöd reagiert wie ich, | |
| dann, erst dann klaue ich ihr die Handtasche. | |
| 29 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dagmar Schönleber | |
| ## TAGS | |
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