# taz.de -- Wenn Schwer bepackt anreisende Wesen im Marsch ihre Zelte aufschlag… | |
Inselstatus Leyla Yenirce | |
Liebe Insel, das letzte Wochenende war invasiv. Hunderte Riesenschildkröten | |
mit Glitzer im Gesicht und Panzern aus Zelten und Schlafsäcken wanderten | |
über die Insel. Ihre Destination: das Dockville Festival in Wilhelmsburg. | |
Das Wetter: schlecht. | |
Aber die Festivalbesucher*innen sind resistent und streifen auch bei | |
tobendem Regen unbeirrt mit ihrer Campingausrüstung umher. Schließlich | |
zahlen die Menschen mit ihren großen bunten Sonnenbrillen viel Geld dafür, | |
auf dieser kommerziellen Musikveranstaltung im Schlamm zu zelten. Man kennt | |
die Riesenschildkröten auch unter der Abkürzung ‚Teenies‘, Jugendliche od… | |
14- bis 25-Jährige, die den ganzen Sommer darauf hin fiebern, ein | |
Wochenende ziemlich teures Bier zu trinken, andere Menschen in die | |
Gummistiefel zu pinkeln oder die Strophen ihrer Lieblingssongs in schiefer | |
Stimmlage mitzusingen. | |
Das sage ich erhaben, denn ich stehe ja auf der Seite der Anwohner*innen | |
Wilhelmsburgs, obwohl ich früher selbst ein Mal eine dieser | |
Riesenschildkröten war. Meine erste Begegnung mit dir liebe Insel fand | |
nämlich nicht erst durch einen Wohnungswechsel statt, sondern schon vor | |
einem Jahrzehnt, als ich selber auf das Dockville-Festival ging. Damals | |
wusste ich noch nicht, was das Reiherstiegsviertel ist und dass uns später | |
mal eine tiefe Freundschaft verbinden wird. Was ich jedoch wusste, war, | |
welche*r Künstler*in wann auf welcher Bühne spielt. | |
Heute kann ich es gut verstehen, wenn die Menschen im Viertel genervt sind, | |
wenn sie keinen Platz mehr in der S-Bahn ergattern, weil die Sitze überall | |
mit Wurfzelten vollgestellt sind. Wenn die Teenies grölend durch die Gegend | |
laufen, schaue ich sie zwar vorwurfsvoll an. Aber dann erinnere mich an | |
mein altes Festival-Ich zurück. Es ist ja auch nicht alles schlecht. | |
Immerhin bekommen Anwohner*innen vergünstigte Tickets, auch wenn ich finde, | |
dass die Wilhelmsburger*innen sie kostenlos bekommen sollten. Warum? Sie | |
müssen neben vollen S-Bahnen nämlich ziemlich viel Mitleid ertragen. | |
Wer nämlich in die hoffnungsvollen Gesichter der Riesenschildkröten blickt, | |
die sich in kurzen Hosen Richtung Festivalgelände bewegen, stellt fest, | |
dass es viel zu kalt ist. Das Ticket, das damals noch 60, heute über 100 | |
Euro kostet, macht es einem auch nicht gerade wärmer. Dafür gibt es auf der | |
Insel glücklicherweise viele Cafés und Dönerbuden, genug für alle | |
Fesivalbesucher*innen zusammen. Falafel im Brot oder Soja-Capucchino halten | |
zwar nur für eine kurze Zeit warm, aber satt hält es sich im Festivalmatsch | |
deutlich Mal besser aus. | |
Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus | |
Wilhelmsburg über Spießer*innen, Linke, Gentrifizierer*innen und den | |
urbanen Wahnsinn in der Peripherie. | |
21 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Leyla Yenirce | |
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