| # taz.de -- Attentate in der Türkei: Vor zwei Jahren in Suruç | |
| > 2015 starben bei einem der schwersten Attentate in der Geschichte der | |
| > Türkei 33 Menschen. Unser Gastautor hat den Anschlag überlebt. | |
| Bild: Suruç am 20. Juli 2015, kurz vor der Detonation | |
| Am 20. Juli 2015 fuhr ich mich mit mehreren Aktivist*innen – die wie ich | |
| bei den Gezi-Protesten dabeigewesen waren – nach Kobane, einer Stadt nahe | |
| der türkisch-syrischen Grenze. Wir hatten nicht einmal Taschenmesser dabei. | |
| Solidarisch wollten wir uns zeigen mit den Menschen dort, die unter dem | |
| Krieg litten. In der türkischen Stadt Suruç, einer Stadt unweit der | |
| syrischen Grenze, machte ich um 12 Uhr Fotos von der Pressekonferenz der | |
| teilnehmenden linken Organisationen. Dann explodierte vor meinen Augen eine | |
| Bombe. Obwohl das nun genau zwei Jahre her ist, hat dieser Tag in meiner | |
| Erinnerung nichts an Intensität verloren. | |
| Der damalige Ministerpräsident Erdoğan und die AKP-Regierung führten zuvor | |
| Friedensgespräche mit den Kurden. Der Anschlag auf eine Versammlung der | |
| prokurdischen Partei HDP am 5. Juni 2015 in Amed, auf türkisch Diyarbakır | |
| genannt, setzte den vorläufigen Schlusspunkt für die Friedensgespräche. | |
| Vollends endete der zweijährige Friedensprozess aber im Garten des | |
| Kulturzentrums Amara in Suruç, wo die Bombe detonierte. Nach offiziellen | |
| Angaben zeichnete sich der sogenannte „Islamische Staat“ für das Attentat | |
| verantwortlich. 33 meist junge Menschen wurden auf diese Weise getötet und | |
| Hunderte verletzt. | |
| Um uneingeschränkte Macht zu erlangen, nahm Erdoğan Kurden, Aleviten und | |
| Sozialdemokraten ins Visier. Sollte der Prozess zum Massaker von Suruç | |
| tatsächlich unabhängig und fair geführt werden, wird am Ende vielleicht | |
| auch bewiesen sein, dass der „Islamische Staat“ und seine Aktivitäten in | |
| der Türkei geduldet wurden. Wenn den Opfern von Suruç Gerechtigkeit | |
| widerfährt, könnte das auch bedeuten, dass sämtliche folgenden Anschläge | |
| aufgeklärt werden könnten – allen voran das Bombenattentat von Ankara am | |
| 10.Oktober des gleichen Jahres. | |
| Der erste Prozess zum Anschlag von Suruç wurde am 4. Mai 2017 auf dem | |
| Gefängnisareal im Kreis in Şanlıurfa im Südosten eröffnet. Militärkräfte | |
| sperrten das Areal weiträumig ab. Die erste Verhandlung wurde 21 Monate | |
| nach dem Anschlag ohne Angeklagte durchgeführt. Eine Anklageschrift, die | |
| verlesen werden konnte, gab es nicht. Eine Reporterin der inzwischen per | |
| Notstandsdekret geschlossenen Agentur ETHA wurde während der Verhandlung | |
| festgesetzt, um zu verhindern, dass sie von dort berichtet.Fünfmal | |
| wechselte der Staatsanwalt. Seit 18 Monaten werden die Verhandlungen unter | |
| Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Dafür tauchte die Anklageschrift | |
| auf. | |
| ## Hinweise auf den Anschlag wurden unterschlagen | |
| Der damalige Polizeipräsident von Suruç hatte bereits vor dem Anschlag | |
| nachrichtendienstliche Informationen erhalten. So lag eine Einstufung des | |
| Attentäters als „wegen Terrorismusgefahr gesuchte“ Person bereits einen | |
| Monat vor dem Anschlag, am 16. Juni, im Polizeipräsidium von Suruç, vor. | |
| Nicht das Selbstmordattentat wurde verhindert, sondern Maßnahmen gegen die | |
| 318 Menschen getroffen, die anreisten. | |
| Der verantwortliche Ex-Polizeipräsident von Suruç, Mehmet Yapalıal erhielt | |
| eine Geldstrafe von 7.500 TL, weil er diese vorliegenden Informationen | |
| nicht dazu genutzt hatte, umfassende Sicherheitsvorkehrungen gegen den | |
| Terror zu treffen. Die Aktivist*innen hatten einzig Spielsachen und | |
| Pflanzensamen für Kobane im Gepäck, als sie nach Suruç reisten. | |
| Die zweite Verhandlung im Prozess wegen des Suruç-Massakers, fand in Urfa | |
| am 14. Juli 2017 statt. Erneut wurde der einzige inhaftierte Angeklagte | |
| Yakup Şahin nicht zur Verhandlung gebracht. Şahin lehnte die | |
| Video-Zuschaltung zunächst aus Gesundheitsgründen ab. Die Videoschaltung | |
| kam trotzdem zustande. Als die Angehörigen Şahin erblickten, riefen sie | |
| wütend: „Du bist der Mörder unserer Kinder!“ Die Anträge der Anwälte auf | |
| Anwesenheit des Angeklagten bei den Verhandlungen und der Verletzten auf | |
| Nebenklage wurden angenommen. Die Verhandlung wurde auf den 13. November | |
| 2017 vertagt. | |
| ## AKP lehnte Untersuchungskommission ab | |
| Die Anwälte der Kläger*innen sehen sich seit zwei Jahren mit einer nicht | |
| enden wollenden Prozess konfrontiert. “Wie wir bereits bei der | |
| Beweisaufnahme merkten, wird auch das Gerichtsverfahren nicht gewissenhaft | |
| genug durchgeführt“, sagt eine begleitenden Juristinnen, Gülhan Kaya. Ihre | |
| Kollegin Sevda Çelik glaubt, dass auch darum gehe, Angeklagte und Täter im | |
| Prozess nicht in Erscheinung treten zu lassen. | |
| Der Antrag auf Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission | |
| nach dem Anschlag von Suruç wurde von AKP- und MHP-Abgeordneten im | |
| Parlament abgelehnt. Der damalige Premierminister Ahmet Davutoğlu hatte | |
| indes verlauten lassen, dass die Selbstmordattentäter, die sich in die Luft | |
| gesprengt hatten, seigefasst und der Justiz übergeben worden seien. | |
| Meiner Meinung nach hat sich der türkische Staat in der Vergangenheit mit | |
| dem Völkermord an den Armeniern nicht auseinandergesetzt, und die | |
| Völkermorde in Zilan und Dersim nicht vollständig aufgearbeitet. | |
| Rechenschaft für das Attentat von Suruç zu fordern und für Gerechtigkeit zu | |
| kämpfen heißt deshalb, sich in der Türkei gegen Krieg und staatliche | |
| Terror-Politik zu stellen. Und es heißt, für den Frieden zu kämpfen. | |
| 19 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Mehmet Lütfü Özdemir | |
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