# taz.de -- Interview zu HDP-Mahnwachen: „Frieden ist ein Grundbedürfnis“ | |
> Tuğba Hezer Öztürk wurde das Mandat als Abgeordnete entzogen. Wir | |
> sprachen mit ihr über die HDP-Mahnwachen und das Frauenprofil der | |
> Regierung. | |
Bild: Tuğba Hezer Öztürk | |
Nach dem Gerechtigkeitsmarsch der CHP, folgt nun die Mahnwache für Gewissen | |
und Gerechtigkeit der HDP, die von der türkischen Regierung systematisch | |
kriminalisiert wird. In den vergangenen zwei Jahren wurde zuerst die | |
Immunität von 50 HDP-Abgeordneten aufgehoben; im Anschluss wurden die | |
beiden Partei-Kovorsitzenden, sowie 90 Bürgermeister*innen und über 5.000 | |
Parteimitglieder verhaftet. | |
Die Mahnwache, die vergangene Woche in Diyarbakır begann, erhält auch in | |
Berlin Unterstützung. Bei der Solidaritätsaktion am Blücherplatz in Berlin | |
am vergangenen Wochenende, nahmen auch Mitglieder aus der Alewitischen | |
Gemeinde, aus der Haziran-Bewegung und der Linken teil. Wir trafen dort | |
HDP-Mitglied Tuğba Hezer Öztürk (27), deren Mandat als Abgeordnete zuletzt | |
per Abstimmung im Parlament entzogen wurde. | |
## taz: Frau Öztürk, vergangene Woche wurde Ihnen bei einer | |
Parlamentssitzung das Mandat als Abgeordnete entzogen. Wo befanden Sie sich | |
zu diesem Zeitpunkt? | |
Tuğba Hezer Öztürk: In Deutschland. Seit fast einem Jahr sind der | |
Abgeordnete Faysal Sarıyıldız aus Şırnak und ich in Europa unterwegs. Wir | |
wurden von unserer Partei beauftragt, die Menschenrechtsverletzungen, die | |
wir in der Südosttürkei dokumentiert haben, an EU-Gremien heranzutragen. | |
Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die Zeit braucht. Die nötigen | |
Dokumente, die unsere Abwesenheit für diesen Zeitraum legitimieren, liegen | |
dem Parlament seit Langem vor. | |
## 324 von 344 anwesenden Parlamentsmitgliedern stimmten für den Entzug | |
Ihres Mandats. Er wurde damit begründet, dass Sie beide dauerhaft gefehlt | |
haben … | |
Ja, so lautet die offizielle Begründung. Aber dieser Mandatsentzug ist | |
nicht anderes als die Fortführung einer Abrechnungspolitik gegen die HDP. | |
Dauerhaftes Fehlen würde bedeuten, dass jemand unentschuldigt und grundlos | |
nicht mehr im Parlament auftaucht. Unser Fehlen war sowohl begründet als | |
auch entschuldigt. Wenn es ein echtes Beispiel für dauerhaftes Fehlen gibt, | |
dann ist das der ehemalige Premierminister Ahmet Davutoğlu. | |
## Weshalb? | |
Nachdem er im Mai 2016 von Erdoğan aus dem Amt entlassen wurde, kam er nur | |
noch ein oder zwei Mal ins Parlament. Und das auch nur zu Abstimmungen. Ihm | |
wurde das Mandat auch nicht entzogen. Dieser Entzug ist nicht rechtens, er | |
verstößt gegen die Gleichheit vor dem Recht, gegen internationale | |
Konventionen und gegen die türkische Verfassung. | |
## Was halten Sie davon, dass Ihr Mandat just an dem Tag aufgehoben wurde, | |
als die HDP in Diyarbakır anfing, ihre „Mahnwachen für Gewissen und | |
Gerechtigkeit“ zu halten? | |
Ich denke, das war eine sehr bewusste Entscheidung. An dem Tag, an dem | |
unsere Partei einen Widerstand gegen das Erdoğan-Regime startet, wird uns | |
die Botschaft vermittelt: „Wir werden euch sowieso ausschalten.“ | |
Normalerweise kommen nur noch sehr wenige Abgeordnete regelmäßig ins | |
Parlament. | |
Aber an dem Tag, an dem über unseren Mandatsentzug abgestimmt werden | |
sollte, wurden alle Mitglieder der AKP und der MHP per SMS benachrichtigt. | |
Sie rannten sofort alle ins Parlament, um ihre Stimmen abzugeben. | |
## Wie ist so etwas möglich, dass Abgeordnete ihre eigenen Kolleg*innen aus | |
dem Amt wählen? | |
Alles ist möglich. Momentan ist das Parlament sowieso nur noch Erdoğans | |
Notar. Die Gesetze, die er will, kommen durch und darunter sind leider | |
keine, die für die Gesellschaft irgendwie von Nutzen sind. Entweder richten | |
sie sich gegen die Umwelt, gegen Frauen oder gegen Arbeitnehmer*innen. | |
Das kann keine Antwort sein auf das ganz grundlegende Bedürfnis der | |
Gesellschaft nach Frieden und Demokratie. Es geht nur noch darum, die | |
AKP-Regierung noch länger aufrecht zu erhalten. Sehen Sie, kürzlich wurden | |
auch noch die Geschäftsbedingungen des Parlaments verändert, durch 18 neue | |
Artikel. | |
## Was sind das für Artikel? | |
Es ist nun verboten, das Wort „Kurdistan“ auszusprechen. Jeder Abgeordnete, | |
der das tut, muss eine Geldstrafe zahlen. Sie dürfen auch nicht vom | |
„Dersim-Massaker“, vom „Roboski-Massaker“ oder vom „Armenier-Genozid�… | |
sprechen. Auch „kurdische Provinzen“ darf man nicht mehr sagen. Stellen Sie | |
sich vor, unsere Wähler*innen haben uns ins Parlament geschickt, um | |
Probleme zu lösen, die sich seit hundert Jahren in der Türkei angehäuft | |
haben – aber uns wird verboten, sie offen anzusprechen. | |
## Was erhofft sich die HDP von den „Mahnwachen für Gewissen und | |
Gerechtigkeit“? | |
Diese Wachen haben die sowieso schon vorhandenen zivilen Proteste neu | |
belebt. Wir wollten damit einen gesellschaftlichen Aufruf kanalisieren. Und | |
wir scheinen erfolgreich zu sein, denn die Sicherheitsbehörden reagierten | |
sofort. Die Polizei hat direkt vom ersten Tag an alle Zugänge zu dem Park | |
in Diyarbakır, wo die Wache anfing, blockiert. | |
Decken und Teppiche für unsere Abgeordneten, die die Nacht dort verbracht | |
haben, wurden nicht zugelassen. Zum zivilen Freitagsgebet, wo Frauen und | |
Männer gemeinsam beten sollten, wurden kaum Leute durchgelassen. Sie tun | |
alles, damit wir uns kein Gehör verschaffen können. | |
## Erhält die HDP für ihre Mahnwachen auch Unterstützung von anderen | |
Parteien? | |
Wir sollten nicht mehr in Parteizugehörigkeiten denken. Vor dem | |
Putschversuch am 15. Juli 2016 waren die faschistischen Repressionen nur in | |
den kurdischen Gebieten präsent. Städte wurden zerstört, über tausend | |
Menschen massakriert. Aber inzwischen haben sich die Repressionen überall | |
in der Türkei ausgebreitet. Hunderttausende haben durch Notstandsdekrete | |
ihre Arbeit verloren. Das schafft Solidarität untereinander. | |
Eine multikulturelle Gesellschaft wie die Türkei kann in dem von der AKP | |
erdachten System nicht bestehen. Es wird früher oder später scheitern – und | |
wir können das beschleunigen, indem wir gemeinsam etwas unternehmen. | |
## Die Mahnwache in Diyarbakır ist auf sieben Tage angelegt. Wird es im | |
Anschluss in anderen Städten weitergehen? | |
Ja, es sind weitere Mahnwachen in Istanbul, Izmir und Van geplant. Auch | |
wenn die Türkei sich inzwischen in ein halboffenes Gefängnis verwandelt | |
hat, trauen sich die Menschen immer noch, auf die Straße zu gehen. Und wir | |
haben auch Rückhalt in Europa. Am vergangenen Samstag begann eine Wache in | |
Berlin am Blücherplatz. Am Abend gab es eine Lärmdemo in Kreuzberg. | |
## Sie wurden mit 26 Jahren als jüngste Frau ins Parlament gewählt. Wie | |
beurteilen Sie den Umgang mit Frauen im Parlament? | |
Zu keiner Zeit ist die türkische Politik so offen frauenverachtend gewesen | |
wie unter der AKP. Die Regierung versucht ihr eigenes Frauenbild zu | |
institutionalisieren: die unterwürfige, schweigende Frau. | |
## Bei drei von vier HDP-Abgeordneten, deren Mandat entzogen wurde, | |
handelte es sich um Frauen … | |
Ja, denn die HDP steht auch für Frauenrechte. Das widerspricht der | |
AKP-Ideologie. Die erste Person, deren Mandat entzogen wurde, war Figen | |
Yüksekdağ, die einzige Parteivorsitzende im Parlament. Aber wir dürfen | |
nicht nur über den Mandatsentzug sprechen, wenn es um Sexismus geht. Das | |
ist nur ein kleiner Teil des Problems. | |
In den kurdischen Städten, die seit zwei Jahren belagert werden, wurden | |
Hunderte von Frauen umgebracht. Ihre Leichen hat man tagelang nackt mitten | |
auf der Straße liegen lassen. An die Häuser wurden sexistische Parolen | |
geschrieben. 52 Institutionen, die sich für Frauenrechte einsetzen, wurden | |
in den vergangenen Monaten geschlossen. Und nun wurde ein Gesetz | |
verabschiedet, das die Heirat minderjähriger Mädchen zulässt. | |
31 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Şamil Sarıkaya | |
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