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# taz.de -- „Menschenwürde steht in unser aller Verfassungen“
> Miss*ter CSD Die Dragqueen Anna Bolika ist das Aushängeschild der
> CSD-Saison und eröffnet am Samstag zusammen mit dem Regierenden
> Bürgermeister Michael Müller die CSD-Parade. Ein Gespräch über
> Diskriminierungserfahrungen, Russland und Fetischevents
Interview Michael Thiele
taz: Frau Bolika, typischerweise hat sich eine Dragqueen ja auf eine feste
Haarfarbe festgelegt; die Perücken sind meist blond, brünett oder rot. Sie
tragen gleich zwei Farben, Platinblond und Erdbeerrot. Wie kommt das?
Anna Bolika: Das ist ein ganz furchtbares Gerücht. Wer immer Ihnen das in
den Kopf gesetzt hat, sollte mit einer regenbogenfarbenen Perücke
ausgepeitscht werden. Ich habe viele verschiedene Perücken und trage auf
dem Kopf, was mir gefällt. Das empfehle ich übrigens jedem.
Bei Ihrer Wahl zur/m Miss*ter CSD 2017 haben Sie Publikum und Jury mit
einem selbstbewussten Mix aus Radiohead, Politik und SM überzeugt. Wie
würden Sie Ihr Image beschreiben?
Mich interessiert die Gegensätzlichkeit von Anmut und Obszönität,
Intelligenz und Absurdität.
Und Ihren Künstlernamen?
Als ich mit 18 Jahren als Künstler angefangen habe, war ich Go-go-Tänzer.
Ich war eher schlank und mag das auch so, aber damit kommt man nicht weit.
Diese Branche wird von muskelbepackten Männern dominiert, die selten tanzen
können, dafür aber oft mit Anabolika nachhelfen. Der Name drückt meinen
Hohn diesem Zustand gegenüber aus. Außerdem funktioniert Anna Bolika als
russischer Name – und meine russische Herkunft ist ein Hauptelement des
Charakters.
Woher stammen Sie genau?
Anna Bolika kommt von der Halbinsel Kamtschatka, einer der abgelegensten
Ecken Russlands, Heimat der größten Bären und vulkanisch hoch aktiv. Das
passt extrem gut zu Anna, ein einfaches Mädchen vom Arsch der Welt,
gekommen, um sie zu erobern. Tatsächlich bin ich in Tomsk geboren. Das
liegt auch am Arsch der Welt, ist aber immerhin eine Großstadt mit
Universität und Industrie.
Wann haben Sie Ihre Heimat verlassen, was war der Grund dafür?
Mit drei Jahren. Weil die Familie meines Vaters Nachfahren von
Wolgadeutschen sind, hatten wir durch das Spätaussiedlergesetz die
Möglichkeit, nach Deutschland auszuwandern. Meine Mutter hat alles
aufgegeben, sie war bereits als Fachärztin für Augenheilkunde anerkannt,
und ihre Familie blieb dort. Unterm Strich sind wir mit der Entscheidung
aber alle sehr glücklich.
Aufgewachsen sind Sie in einer Kleinstadt im südlichen Nordrhein-Westfalen.
Haben Sie Diskriminierungen erlebt? Immerhin ist das katholische Bonn um
die Ecke …
Ich hatte sehr lange gebraucht, bis ich überhaupt die Möglichkeit
akzeptierte, dass ich schwul sein könnte, obwohl es alles um mich herum
bereits wussten. Bis dahin waren meine Kindheit und frühe Jugend nicht
schön, inklusive aller Hänseleien, weil ich anders war, und meines
ständigen Kampfes mit mir selbst. Als ich 16 war, kam ein offen lesbisches
Mädchen in meine Klasse, ich habe mich mit ihr angefreundet. Sie war
superbeliebt – „obwohl“ sie lesbisch war. Bald danach begann mein
Coming-out, ich bin sehr selbstbewusst aufgetreten. Die Hänseleien lösten
sich in Luft auf, und ich wurde einer der beliebtesten Schüler.
Verfolgen Sie die politische und gesellschaftliche Entwicklung Russlands?
Wie beurteilen Sie diese, auch in Bezug auf LSBTTIQ?
Ja, wenn auch weniger intensiv, als ich gern würde. Die Berichterstattung
hier ist leider sehr einseitig. Man versucht Putin als den ultimativen
Bösewicht darzustellen, obwohl das Land unter ihm für viele Russen die
bisher beste Version ist. Ich möchte anmerken, dass es dieses Russland erst
seit 1991 gibt. Ferner hat jede Geschichte mindestens zwei Seiten. Was die
Community angeht, ist sie dort genauso politischer Spielball wie hier und
andernorts. Gleichberechtigung und Menschenwürde stehen in unser aller
Verfassungen, trotzdem müssen sie immer noch diskutiert werden.
Ihre Kunstfigur Anna Bolika ist erst mit Anfang 20 nach Deutschland
gekommen, sie spricht mit starkem russischem Akzent, ihr weißes Make-up
erinnert an das mancher Russinnen. Ist Anna Bolika ein Klischee?
Ich spiele bewusst damit, vor allem weil es unterhaltsam ist. Ich habe viel
Intelligentes zu sagen. Nach meiner Erfahrung hören die Leute aber nur zu,
wenn es unterhaltsam verpackt ist.
Als Anna Bolika treten Sie vor allem auf Fetischevents im In- und
europäischen Ausland auf. Wie ist die Atmosphäre auf diesen
Veranstaltungen?
Vor allem geprägt von Akzeptanz und gegenseitigem Respekt. Alles passiert
einvernehmlich. Jeder lebt sein authentischstes Ich aus, dazu gibt es gute
Musik und viel zu sehen. Im Kern sind diese Fetischevents für mich ein
Vorbild: Wenn wir uns so benehmen würden wie die Menschen dort, hätten wir
weniger Probleme und mehr Spaß im Leben.
Ihr Amt als Miss*ter CSD macht Sie nun einem größeren Publikum bekannt. Mit
welcher Botschaft treten Sie während der CSD-Saison auf? Die Ehe ist ja nun
für alle geöffnet worden.
Allem voran kämpfe ich für und mit Quarteera e. V. für mehr Akzeptanz von
LSBTTIQ im russischsprachigen Kulturraum. HIV-Aufklärung und -Prävention
sind immer noch ein aktuelles Thema, ebenso Suchtprobleme innerhalb der
Community. Im Großen und Ganzen setze ich mich für mehr Für- und
Miteinander unter den Menschen ein, vor allem aber in unserer Community.
Bei welchen Terminen kann man Sie erleben?
Zum Beispiel beim CSD, beim Benefiz-Sommerfest von Mann-O-Meter und auf der
Gala der Berliner Aids-Hilfe.
Der diesjährige CSD ist ein besonderer, weil er in einem Wahljahr
stattfindet, das Motto lautet „Mehr von uns – jede Stimme gegen Rechts“.
Als wie gefährlich beurteilen Sie die rechten Strömungen in der deutschen
Gesellschaft?
Studien besagen, dass zehn Prozent einer jeden Bevölkerung zumindest latent
völkisch denkt – dagegen kann man wohl nichts machen. Den aktuellen
Rechtsruck deute ich als Symptom einer generellen Unzufriedenheit mit der
Politik, mit prekären Arbeitsverhältnissen, dem maroden Bildungssystem,
einer unsicheren Rente. Politiker und Bürger sollten anfangen,
zusammenzuarbeiten und nach Lösungen für die vielen ernsten Probleme
unserer Zeit zu suchen, statt mit dem Finger auf vermeintliche Sündenböcke
zu zeigen.
22 Jul 2017
## AUTOREN
Michael Thiele
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