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# taz.de -- Massenkonfiszierung: „Eine nicht enden wollende Quälerei“
> Aramäer stellen die älteste nicht muslimische Gemeinde in Anatolien.
> Jahrzehntelang hat der türkische Staat sie enteignet, zuletzt um 50
> kirchliche Besitztümer.
Bild: Eines ihrer wichtigsten religiösen Zentren liegt in Mardin: Das Kloster …
Am Mittwoch, den 5. Juli 2017, hat das Governeuersamt der südostürkischen
Provinz Mardin den Beschluss über die Massenkonfiszierung kirchlicher
Besitztümer der aramäischen Religionsgemeinde kommentarlos aufgehoben. Dies
bestätigte auch Kuryakos Ergün, Vorsitzender der aramäischen Stiftung
Kloster-Mor-Gabriel.
Noch vergangene Woche hatte der Regierungsbezirk von Mardin bekanntgegeben,
dass rund 50 aramäische Besitztümer wie Kirchen, Klöster, Friedhöfe, sowie
Ackerland und Weingüter über das staatliche Staatsamt der islamischen
Religionsgemeinde Diyanet beziehungsweise der Stadtverwaltung übertragen
werden sollten.
## Gesetz zur Verstädterung
Nachdem diverse aramäische Stiftungen und Dachverbände, in der Türkei und
Deutschland, juristische Gegenschritte gegen den Mardiner Beschluss
ankündigten, hat das Governeursamt überraschend den Übertragungsvorgang
ausgesetzt. Ergün zufolge löse das aber nicht die Probleme seiner Gemeinde.
Solange die Grundbucheinträge beim Staat liegen, könne dieser über die
Nutzung verfügen.
Die Übertragung der aramäischen Besitztümer geht auf das 2012 erlassene
Großstadt-Gesetz zurück. In diesem wird die Neuordnung der städtischen
Kommunalverwaltungen im Zuge der Verstädterung ländlicher Regionen
reguliert. Darunter fällt zum Beispiel auch die Praxis sogenanntes
Dorfeigentum in die Kommunen einzugliedern. Seit 2016 bekannt wurde, dass
die Provinz Mardin zur Großstadt wird, läuft die Organisation der
Umverteilung. Wir befinden uns in einer extrem schwierigen Phase“, so
Ergün. Juristisch sei das eine nicht enden wollende Quälerei.
## Älteste nicht-muslimische Gemeinschaft in Anatolien
Die Aramäer sind eine der ältesten nicht-muslimischen Gemeinschaften in der
Türkei. Schätzungen zufolge leben aktuell noch 35.000 Menschen aramäischer
Herkunft in der Türkei. Die meisten von ihnen in Istanbul (ca. 20.000), der
Rest verstreut über die Provinzen Şırnak, Antakya, Adıyaman, Hakkari,
Diyarbakır und Mardin.
Aufgrund jahrzehntelanger Kämpfe in der Region (zwischen der türkischen
Regierung und der PKK, Anm.d.Red) sahen sich viele Aramäer zur Emigration
gezwungen. So leben nur noch rund 3000 Aramäer im Bezirk Midyat und
Umgebung in der Provinz Mardin. Mit seinen Hunderten von Kirchen ist Midyat
und die Gegend um das Gebirgsbegiet Tur Abdin heiliges Land für sie. Ihre
wichtigsten religiösen Zentren, wie das Kloster Mor Gabriel, liegen in
Mardin.
## Garantie von Minderheitenrechten
In der Türkei sind Grundrechte und -freiheiten von Minderheiten, sowie ihr
Recht auf Bildung und Religionsausübung im Lausanner Vertrag garantiert.
Der Definition nach handelt es sich bei Aramäern um eine zu anerkennende
Gemeinschaft, doch der türkische Staat beraubt sie seit Jahren ihrer
Rechte. Eigentum, Bildung und Religionsausübung sind ein stetes Problem.
(Im Laussaner Vertrag werden explizit keine religiösen Gruppierungen
benannt. Dennoch behandelt der türkische Staat nach osmanischer Tradition
nur Griechen, Armenier und Juden als eigenständige Minderheit, Anm.d.Red).
Seit Jahren bemühen sich Aramäer nachzuweisen, dass das Kloster Mor
Gabriel, eines ihrer wichtigsten religiösen Zentren, ihrer Gemeinde gehört.
Es gab diverse Prozesse darum. Zwar deklamierte die Regierung im Rahmen
seines damaligen Demokratisierungspakets, das Kloster sei zurückgegeben,
tatsächlich aber wurde nur ein Teil der Grundbucheinträge retourniert. Vor
dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof sind diesbezüglich weitere
Prozesse anhängig.
## Kampf um Sprache und Kirche
Zur Aufrechterhaltung der aramäischen Sprache, wollte die Gemeinschaft
Schulen eröffnen. Dies gelang ihnen bisher nur in Istanbul, in Form einer
Grundschule. Es gibt keine weiterführenden Schulen, auf denen die Kinder
weiter auf Aramäisch unterrichtet werden können. Der Staat, an den auch
aramäische Bürger Steuern zahlen, kommt ihrem Bildungsauftrag nicht nach.
Um ihre Schule weiter betreiben zu können, sammeln sie daher regelmäßig
Spenden.
Mit Mühe und Not gelang es den Aramäer zumindest den Staat davon zu
überzeugen, eine eigenständige Religion zu sein und damit den Bau einer
eigenen Kirche zu genehmigen. Schließlich wurde in Istanbul, wo die größte
aramäische Gemeinde lebt, der Bau einer Kirche genehmigt. (Der erste
genehmigte Kirchenbau seit Gründung der Republik 1923, Anm.d.Red).
Es fand sich ein Grundstück im Istanbuler Stadtteil Yesilköy, das sich aber
als Friedhof einer römisch-katholischen Gemeinde herausstellte. Statt in
dem Problem zu vermitteln, wiegelte der Staat die beiden
Glaubensgemeinschaften gegeneinander auf. Noch immer hat die aramäische
Gemeinde keine eigene Kirche in diesem Stadtteil.
Eigentum erwerben war verboten
Bis vor 15 Jahren (Reformation des Stiftungsgesetzes 2002, Anm.d.Red) war
es Stiftungen nicht-islamischer Gemeinschaften in der Türkei verboten,
Eigentum zu erwerben. Unter diesem Verbot wurde der Besitz von aramäischen
Stiftungen auf andere Organisationen übertragen. Auch Staatsbeamte,
Dorfschützer und [muslimische] Dorfbewohner ließen häufig nicht zu, dass
Aramäer ihren eigenen Besitz nutzen konnten, von dem alle wussten, dass er
ihnen gehört.
Mancherorts wiederum vergriffen sich Bauern und Dorfvorsteher nicht an dem
von Aramäern genutzten Grund und Boden. Dort konnten Aramäer über Jahre
ihre Grundstücke nutzen und ihre Kirchen und Klöster führen. Es erforderte
allerdings etliche Prozesse, damit ihnen die entsprechenden Grundbücher
überschrieben wurden.
Prozesse zur Rückforderung ihres Eigentums
Seit rund 10 Jahren versuchen die nicht-islamischen Stiftungen mühevoll
ihren Besitz zurückzuerhalten. Nach einer Reihe staatlicher Verordnungen
wurde symbolträchtige Besitztümer, wie die Grundstücke des griechischen
Fener-Rum-Gymnasiums und der Priesterakademie an die nicht-islamischen
Stiftungen zurückgegeben. Auch verlangte der Staat von den Gemeinden eine
Aufstellung der Besitztümer, die er selbst im Laufe der Jahre konfisziert
hatte.
Egal welche nicht-islamische Stiftung Sie in der Türkei besuchen, alle
führen einen Prozess um ihre Grundstücke, Kirchen, Klöster oder Friedhöfe.
Gehen Sie zu irgendeinem armenischen, griechischen oder aramäischen Anwalt,
zweifelsohne befinden sich in deren Büros Hunderte Aktenordner voller
vergilbter Unterlagen.
7 Jul 2017
## AUTOREN
Uygar Gültekin
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