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# taz.de -- Berliner Szenen: Kassenschauspiel
> Briefmarken
Endlich stehe ich mal richtig. Normalerweise habe ich ein sicheres Gespür
dafür, mich gerade in die Schlange zu stellen, bei der ich am längsten
warten muss, bevor ich endlich dran bin. Doch diesmal habe ich einen
Verbündeten in der Reihe neben uns, einen hageren Herrn um die siebzig, der
mit lauter Stimme energisch auf die sichtlich überforderte Dame an der
Nachbarkasse einredet: „Doch, doch! Sie haben Briefmarken!“
Die Edeka-Verkäuferin antwortet zaghaft etwas, das ich nicht verstehe. „Das
hat mir Ihre Kollegin gesagt“, insistiert er.
Sie zuckt hilflos mit den Schultern. In ihr Gesicht kann ich leider nicht
schauen, da sie mir den Rücken zuwendet. Dafür sehe ich mehrere Kunden
hinter dem querulierenden Mann mit den Augen rollen. Sie seufzen, ein
langgezogenes „Maaaann!“ wird ausgestoßen.
Doch der Senior lässt sich davon nicht irritieren. „Los, gehen Sie Ihre
Kollegin fragen!“, setzt er der Kassiererin weiter zu. Die erhebt sich
brav, um dem Befehl nachzukommen. Eins ist klar: Bei Edeka ist der Kunde
noch König, wenn auch nicht jeder. Ein Mann zwei Positionen hinter dem
Briefmarkeninteressenten stöhnt. Unsere Blicke treffen sich. Ich lächle ihm
mitfühlend zu. Innerlich bin natürlich froh, denn so geht es mal für mich
schneller.
Ich habe schon eingepackt, als die Verkäuferin der Nachbarkasse endlich
wieder zurückkommt. Ich könnte abhauen. Aber ich möchte noch wissen, wie
der Konflikt ausgeht. „Falls wir Briefmarken haben, dann sind die in der
Schublade hier“, erklärt sie. Sie öffnet das Fach, wühlt ein bisschen, wird
nicht fündig und erklärt dem Herrn, dass die Briefmarken schon weg sind.
Ernsthaft gesucht hat sie nicht. Er zuckt mit den Schultern und
verschwindet, ohne weiter zu protestieren. Dafür nun also der ganze
Aufstand. Schade. Ich hatte auf ein spektakuläreres Ende gehofft. Stephan
Serin
14 Jul 2017
## AUTOREN
Stephan Serin
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