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# taz.de -- „Wir feiern unsere Mängel“
> Party Bei der Pride Parade rollen und laufen „Freaks und Krüppel,
> Eigensinnige und Blinde, Taube und Normalgestörte“ durch die Stadt, so
> die Veranstalter. Es gehe darum, so Kämpfe von Behinderten und Menschen
> mit Psychatrieerfahrung zusammenzuführen
Bild: „Der Begriff ‚Teilhabe‘ ist verbrannt – deshalb fordern wir ‚ga…
Interview Anne Pollmann
taz: Herr Kralj, auf der Pride Parade wird „behindert und verrückt“
gefeiert, so der Slogan. Worum geht es dabei genau?
Matej Kralj: Wir sind Menschen mit Behinderungen, Menschen mit
psychiatrischen Diagnosen und ihre Unterstützer*innen. Wir gehen jetzt zum
fünften Mal auf die Straße, um gegen eine Gesellschaft zu protestieren, die
Menschen, die nicht in Normen passen, ausgrenzt und stigmatisiert. Wir
wollen selbstbestimmt leben und wehren uns dagegen, in Psychiatrien
eingesperrt zu werden, in Behindertenwerkstätten arbeiten zu müssen und in
Wohnheimen leben zu müssen. Mit der Parade feiern wir unsere – wie die
Gesellschaft es sieht – Mängel und zeigen, dass wir uns nicht schämen,
sondern stolz darauf sind.
In Ihren Texten verwenden Sie allerhand abwertende Begriffe.
Wir benutzen diese Wörter als Selbstbezeichnung und als positive Aneignung
abwertender Begriffe.
Frau Franz, was wollen Sie mit der Pride Parade erreichen?
Paula Franz: Es geht uns um eine Art Empowerment. Das heißt: Wir wollen
gemeinsam die Straße erobern, uns so zeigen, wie wir sind, und zeigen, dass
wir gut sind, wie wir sind – im Gegensatz zu den Verhältnissen, in denen
wir leben. Es geht uns mit der Parade darum, die Kämpfe von Behinderten und
Menschen mit Psychatrieerfahrung oder psychiatrischen Diagnosen
zusammenzuführen, und zwar emanzipatorisch, radikal und
kapitalismuskritisch.
Herr Drebes, das Motto der diesjährigen Pride ist „ganzhaben statt
teilhaben“. Was steckt dahinter?
Sven Drebes: Der Begriff „Teilhabe“ ist ja fast schon Modebegriff. Er
sollte ursprünglich mal heißen, dass jede*r überall mitmachen kann. Aber in
der Praxis sieht das anders aus. Gerade behinderte und verrückte Menschen
kriegen oft nur Krümel hingeworfen, die dann Teilhabe genannt werden. Zum
Beispiel, dass man 35 Stunden die Woche in einer Werkstatt mit behinderten
Menschen arbeitet, aber nur 200 Euro dafür bekommt. Oder dass man in
Wohngruppen mit sieben bis zehn Leuten leben muss, wo man zwar theoretisch
jederzeit rauskann, aber praktisch nicht die Unterstützung da ist, damit
jeder sein Leben leben kann, wie er will. Der Begriff „Teilhabe“ ist
verbrannt – und darum fordern wir „ganzhaben statt teilhaben“.
Frau Franz, 2016 wurde das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Gibt es
positive Entwicklungen?
Paula Franz: Viele haben gehofft, dass das Bundesteilhabegesetz einiges
ändern würde. Das, was letztes Jahr beschlossen wurde, hat die Erwartungen
aber absolut nicht erfüllt. Es wurden sogar neue Möglichkeiten geschaffen,
selbstbestimmtes Leben zu verhindern. Auch Institutionen wie die
Psychiatrie gibt es weiterhin. In Berlin wurde zudem mit dem neuen
Psychisch-Kranken-Gesetz Zwangsbehandlung erneut legalisiert. Das Gesetz
ermöglicht es, Menschen mit psychiatrischen Diagnosen im Fall akuter
Selbst- oder Fremdgefährdung gegen ihren Willen in der Psychiatrie
unterzubringen. Darauf haben wir keine Lust.
Wen wollen Sie mit der Pride Parade ansprechen?
Paula Franz: Das Motto ist ja „Behindert und verrückt feiern“, das heißt,
wir wollen vor allem Freaks und Krüppel, Verrückte und Lahme, Eigensinnige
und Blinde, Taube und Normalgestörte ansprechen. Unterstützer*innen sind
natürlich auch eingeladen. Uns ist wichtig, dass viele Menschen zur Parade
kommen, die sonst nicht auf Demos gehen. Es versammelt sich nicht die
übliche linke Szene, sondern es kommen Menschen, die sich aus
unterschiedlichen Gründen betroffen fühlen und deren Themen sonst selten
aufgegriffen werden. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass am Hermannplatz
50 Rollstuhlfahrer*innen stehen und sehnlich darauf warten, dass es endlich
anfängt.
Matej Kralj: Die Parade will jede*n ansprechen, der das Gefühl hat,
gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein, und feststellt: „Das verfolgt mich
und ich habe genug davon!“
Was machen Sie selbst, um möglichst vielen Leuten die Teilnahme an der
Parade zu ermöglichen?
Paula Franz: Wir versuchen, eine nicht zu lange, gut zugängliche und gut
berollbare Strecke zu finden. Es gibt rolligerechte Toiletten; das ganze
Programm wird in deutsche Gebärdensprache gedolmetscht. Es gibt
Kommunikationsassistenzen, also Leute, die zwischen Lautsprache und
Gebärdensprache vermitteln, und einen Ruhewagen am Ende der Demo. Dazu eine
Unterstützungsgruppe, also Leute, die schauen, dass es allen gut geht, und
die ansprechbar sind. Und wir achten auf leichte Sprache. Alle Redebeiträge
bekommen vorher nochmal einen Barrierecheck.
Sven Drebes: Aber man kann nicht alles von vornherein im Kopf haben. Wir
lernen auch jedes Jahr dazu.
13 Jul 2017
## AUTOREN
Anne Pollmann
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