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# taz.de -- Früher war er jung gewesen
> Erzählen Schichten des Geschehens statt Geschichten: Originell und witzig
> wird es in Jakob Noltes Roman „Schreckliche Gewalten“ gerade da, wo es an
> Originalität fehlt
Bild: „Er kam sich vor wie jemand, den er schon mal gesehen hatte“
Vom obersten Diskursscanner Rainald Goetz stammt die Definition des
Schreibers als eines „Welt-Text-Empfängers“, den er nur deshalb nicht
Autor, also zu Deutsch Urheber nennt, weil jener immer genau wissen müsse,
„an welcher Wiederholungsstelle“ sich ein bestimmter Satz gerade befände
und ob er also überhaupt noch „das ursprünglich Gemeinte“ oder, zur Phrase
geworden, „inzwischen eher das Gegenteil“ mitteile.
Bevor man sich den neuen Roman von Jakob Nolte vornimmt, schalte man
demnach am besten eine Stunde lang in irgendeine amerikanische Arzt- oder
Kriminalserie rein und hole sich ein kurzes Update aus den recht
redundanten Handlungs- und Dialogbaukästen solcher Formate. Denn diese sind
der Fundus für den Autor, der bereits 2015 mit seinem zwischen irrem
Detektivroman und viel zu dick aufgetragenem College-Movie changierenden
Debüt „Alff“ eine Parodie auf mindestens zwei verschiedene Genres vorgelegt
hat.
## Es war eine Vollmondnacht
In „Schreckliche Gewalten“ – schon der Titel will furchteinflößender
klingen, als es die Handlung dann ist – flicht er nun abermals massenhaft
Jargon, tiefschürfendes Beschreibungsvokabular, Verschwörungstheorien und
allerlei schablonenhaftes Figureninventar zu einer vollkommen überladenen
und obendrein unglaubwürdigen Parodie eines Plots.
Und der geht so: Die beiden Teenager Iselin und Edvard Honik wachsen in
einem ausschließlich aus Stereotypen und anscheinend wahllos eingebrachtem
Lexikonwissen zusammengebastelten Norwegen der sechziger und siebziger
Jahre auf. Bis sich in einer Vollmondnacht (die Zwillinge sind gerade
zwanzig geworden) die Mutter „in ein wölfisches Wesen“ verwandelt und den
Vater zerfleischt. Was folgt, ist eine aberwitzige und in tausend
Nebenstränge zerfasernde Story – auch die beiden Zwillinge tragen das
Werwolf-Gen in sich –, die aber genau so überladen und verzettelt sein
muss, wie sie Nolte auf knapp 350 Seiten gerät.
Denn während Edvard dem Werwolf-Schicksal einmal quer über den eurasischen
Teil der Weltkarte entflieht und Iselin in Bergen Archäologie studiert –
„weil sie sich für die Schichten des Geschehens interessierte, und nicht
für Geschichte“ –, dekliniert der notorisch unzuverlässige Erzähler seine
Figuren durch einen schier endlosen Katalog an Motivplattitüden, wie sie in
Filmen, Serien und Unterhaltungsliteratur (man kann es nach ca. 100 Seiten
Nolte gar nicht mehr fassen) Handlungen abgeben: „Sie brachen in Kaufhäuser
ein, organisierten illegale Wettspiele oder erpressten Polizeikommissare.“
„Sie steckten Kaufhäuser in Brand oder nahmen Einfluss auf die bürgerliche
Presse.“ Am Höhepunkt stehen die Gründung einer RAF-ähnlichen
Guerilla-Gruppe namens „Operation Romantischer September“ und eine
Flugzeugentführung, in deren Verlauf auch das zweite der beiden Geschwister
zum Tier wird.
Wichtige Informationen erhalten die Zwillinge dabei wie im Groschenroman
ausschließlich von Seefahrern und in durchzechten Hafenkneipennächten, die
Leser dagegen im Überfluss. Quasi im Vorbeigehen überzeichnet Nolte
sämtliche nur denkbaren Plotwendungen und zeigt, wie inflationär der
Gebrauch vorgeblich vielsagender Figuren-Charakterisierungen oder raunender
Vorgriffe in Texten oft ist: „Noch nie hatte er im Armdrücken verloren.“
„Früher war er jung gewesen.“ „Später erfand er den ACE-Drink“, „au…
war er ein ganz guter Schlagzeuger.“ „Er kam sich vor wie jemand, den er
schon mal gesehen hatte.“
Mit seinem Ansatz, eine Reihe von nicht besonders tiefenscharfen Figuren
durch eine Unmenge von Plotklischees zu jagen, bewegt sich Nolte in der
Tradition einer das Erzählen auf seine Grundlagen hin abklopfenden
Literatur. Während Texte wie Peter Handkes „Hausierer“ oder Gert Jonkes
„Geometrischer Heimatroman“ mal sprach-, mal formkritisch gegebene
Erzählmuster unterlaufen, wird bei Nolte der permanente Drang des Narrativs
ausgestellt – beziehungsweise derer, die es erzeugen –, immer und überall
einen Zusammenhang herstellen zu müssen: wahlweise durch eine Intention,
ein treffendes Adjektiv oder eine nur scheinbar genaue Beschreibung, selbst
da, wo von alledem nichts zu finden ist.
Das führt als Quasi-Kür dann noch einmal der äußerst kurze zweite Teil des
Romans vor: eine über vier Jahreszeiten angelegte Fabel aus dem Tierreich,
die ohne direkten Zusammenhang an Edvards Verwandlung anschließt. Da wird
den Hyänenzwillingen Kodak und Leika von Oralsex über „vier linke Tatzen“
bis zu einer ausgeprägten Individualpsychologie allerhand
Anthromorphisierendes untergeschoben.
Das ist von Nolte alles raffiniert gemacht – und obendrein irre witzig –,
ergibt aber am Ende auch eine gar nicht mal schlechte Geschichte, die man
gerne zu Ende liest. „Warum konnte man“, heißt es einmal von einer der
vielen Nebenfiguren, „nichts zerstören, ohne etwas dabei zu erschaffen?“
Das klingt wie ein Schlüssel zum Text, ist aber am Ende eben nur eine von
zahllosen Finten in einem Roman, der vor allem eines will: Spaß haben.
Michael Watzka
Jakob Nolte: „Schreckliche Gewalten“. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2017,
340 Seiten, 22 Euro
13 Jul 2017
## AUTOREN
Michael Watzka
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