| # taz.de -- Barfuß durch Bremen | |
| > Protokoll Aus der Begegnung mit einem Barfußläufer wird ein Gespräch über | |
| > das Leben –und über bewegte Therapieformen | |
| Bild: Mit roten Füßen und Stock am Weserufer: der Barfußläufer von Bremen | |
| von Klaus Jürgen Schmidt | |
| Einmal hatte ich ihn schon gesehen, in den Bremer Wall-Anlagen, im Winter, | |
| bei eisiger Temperatur. Da war er mir entgegengekommen, krebsrot gefärbtes | |
| hängendes Schnurrbarthaar, ein Stock mit einem Hirschhorn als Griff. Erst | |
| beim Vorübergehen bemerkte ich, dass er barfuß lief, die Füße krebsrot wie | |
| sein Bart. Vielleicht ein Jahr später fragt der Mann mit dem | |
| Hirschhorn-Stock, ob er sich neben mich setzen dürfe, auf die mittlere Bank | |
| mit Blick auf Weser und „Umgestürzte Kommode“. Ich erkenne das krebsrote | |
| Barthaar und die krebsroten nackten Füße, am gelegentlich einsetzenden | |
| Schnaufen bemerke ich aber auch, dass der Mann offensichtlich Atemprobleme | |
| hat. | |
| „Stört Sie der Pfeifenrauch?“, frage ich und bin im Begriff, die eben | |
| angezündete Pfeife auszuklopfen. „Nee, nee,“ sagt er, „COPD!“ und klop… | |
| sich an die Brust. „Kommt das davon?“, will ich wissen und zeige auf seine | |
| nackten Füße. „Die sind gesund,“ antwortet der Mann und schaut mich durch | |
| die schwarzen Gläser seiner Brille an, dann klopft er wieder an seine | |
| Brust. „Das hier drinnen ist kaputt.“ | |
| Er schnauft und guckt auf seine krebsroten Füße. Auf dem Nagel des großen | |
| Zehs am rechten Fuß scheint etwas Aufgeklebtes zu glitzern. „Ich komm’ hier | |
| fast jeden Tag vorbei. Aber die mittlere Bank ist meist besetzt. Von hier | |
| seh’ ich genau geradeaus auf die ‚Umgestürzte Kommode‘.“ Und er weist | |
| hinüber auf die andere Weserseite zum alten Wasserturm, dessen Backsteinbau | |
| diesen Spitznamen wegen seiner vier Ecktürmchen erhielt, die wie in den | |
| Himmel ragende kurze Füße eines Möbelstücks aussehen. Zwischen Bremer | |
| Denkmalschutz und Investoren ist die Neunutzung umstritten. Es geht | |
| sozusagen um müde Füße und ob für diese ein Fahrstuhl an- oder eingebaut | |
| werden müsste. ... | |
| „Seit wann laufen Sie denn schon barfuß durch Bremen?“ „Seit 20 Jahren. | |
| Damals kamen mir beim Aldi meine Sandalen abhanden. Da musste ich barfuß | |
| weiter, und da hab ich gemerkt, dass das Spaß macht, dass das gut tut. | |
| Seitdem habe ich nie wieder Schuhe getragen, obwohl …“ Er scheint hinter | |
| seinen dunklen Gläsern zu grinsen. „Eigentlich war ich ein | |
| Schuh-Fetischist, immer das Beste. Und die Socken habe ich mir immer selber | |
| gestrickt. Wissen Sie, ich war Dolmetscher beim Gericht. Da gibt’s immer | |
| ’mal lange Pausen, dann habe ich meine Socken gestrickt. Für jeden Tag | |
| hatte ich frische.“ | |
| Ein Bremer Gerichtsdolmetscher, der einst seine Socken selbst strickte und | |
| jetzt seit 20 Jahren barfuß durch Bremen läuft? „Was für ein Jahrgang sind | |
| Sie, wenn ich fragen darf. Und haben Sie immer hier gelebt?“ | |
| „Jahrgang vierundvierzig …“ | |
| „Das ist auch meiner.“ | |
| „Aber ich kam als Kuckuckskind zur Welt, und nicht in Bremen.“ | |
| „Jedenfalls barfuß. Und wo?“ | |
| „Eigentlich auf dem Jahrmarkt, reingeboren in eine Wurst-Dynastie, die in | |
| Hamburg und umzu schon vor ’nem Jahrhundert bei allen möglichen | |
| öffentlichen Veranstaltungen ihre Wurstbuden aufbaute, sogar, wenn die | |
| Alster zugefroren war, da gab’s Würstchen für die Schlittschuhläufer. Nee, | |
| nach Bremen durften wir gar nicht, da gibt’s so Wurstgrenzen, wissen Sie. | |
| Und ‚Wurst-Spenden‘ waren immer wichtig, für alle, die was zu bestimmen | |
| haben beim Jahrmarktgeschäft. Das ist heute noch so, erkundigen Sie sich | |
| mal bei denen aufm Freimarkt oder auf der Osterwiese. … | |
| Na ja, und das Geschäft lief sogar in Kriegszeiten so gut, dass wohl | |
| Personal gebraucht wurde, und der Mann meiner Mutter war trottelig genug, | |
| meinen Vater selbst anzuschleppen – einen hübschen polnischen | |
| Zwangsarbeiter! … Meine Mutter hatte also bald einen Neuen, und der hieß | |
| Sorokowski. Ich bin sein Axel … und du bist? … weißte, ich duze immer | |
| alle!“ | |
| „Ich bin der Klaus … Äh … ein Jahrmarkt-Kind? Ich hab’ mal vor Jahrzeh… | |
| eine Reportage gemacht über die Casselli-Familie, die damals mit ihrem | |
| kleinen Zirkus in Hastedt gastierte. Hängen geblieben davon ist bei mir das | |
| Problem der Kinder, die dauernd in eine andere Schule gehen mussten …“ | |
| „Nicht bloß das! Der Lärm, der dauernde Lärm von den Fahrgeschäften | |
| rundherum. Wir lebten ja praktisch permanent im Wohnwagen auf diesen | |
| Märkten. Nee, das wollt’ ich mir nicht antun. Als ich alt genug war, hab’ | |
| ich mich nach ’ner Lehre umgesehen, im Gaststättengewerbe. Das war nicht | |
| einfach, da musste ich oft ’mal zu Hause um Geld betteln … Aber ich hab’s | |
| geschafft, bin dann nach Frankreich, nach Paris in ein paar gute | |
| Restaurants, hab’ Französisch gelernt. Aber dann gab’s da diese | |
| Studenten-Revolte, Paris brannte. … Wenn ich’s recht bedenke, kam überall | |
| da, wo ich abhaute, nach mir die Revolution. … Ich also ab nach England. | |
| Und da gab’s die Möglichkeit, mit meiner Berufserfahrung den A-Level | |
| anerkannt zu bekommen. Das hieß Zugang zu einem Studium. Ich machte meinen | |
| BA und hab’ dann sozial benachteiligten Kids ordentliches Englisch | |
| beigebracht. Ja, und dann hab’ich die britische Staatsbürgerschaft | |
| beantragt. Auch das hat geklappt, ich hätt’ mich bloß noch bei der Polizei | |
| melden müssen. … Aber dann kriegte ich Post aus Bremen. Der alte Sokorowski | |
| lag im Sterben … mein Vater. Der hatte es auch nicht leicht gehabt. | |
| Meine Mutter hatte nämlich zum dritten Mal geheiratet. Da hat er oft am | |
| Meer gestanden und ihren Namen gerufen. … So wurde ich nicht Brite, sondern | |
| Bremer, Dolmetscher für Englisch und Französisch, hier am Gericht.“ | |
| „Und Sockenstricker in den Arbeitspausen!“, sage ich, und erkläre, seine | |
| Geschichte gehöre aufgeschrieben: | |
| „Der Barfußgänger von Bremen“. | |
| Er gibt mir seine Adresse und setzt seine tägliche Runde fort – auf | |
| krebsroten nackten Füßen. Erst als er hinter der Ziegelmauer des | |
| Erste-Weltkrieg-Denkmals verschwunden ist, fällt mir eine Schlussfrage ein: | |
| Haben die ihn am Gericht auch barfuß dolmetschen lassen? Und ich beginne zu | |
| grübeln: Vor 20 Jahren, da war der Axel 53… Frührentner? COPD? Im Internet | |
| lerne ich später: „COPD = Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (englisch: | |
| chronic obstructive pulmonary disease)“, und weiter: „Bewegung erhält die | |
| Lungenfunktion und erhöht die körperliche Belastbarkeit“. | |
| Hat der Axel mit seinem Barfussgehen zufällig eine Therapie gefunden, die | |
| ihm zwanzig Jahre geschenkt hat? Er hat mir ja seine Adresse gegeben. Da | |
| gibt’s doch an seinem Geburtsort dieses Hamburger Institut für | |
| Therapieforschung, abgekürzt: HIT. | |
| 8 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Jürgen Schmidt | |
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