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# taz.de -- Hausbesuch In einem ehemaligen Hotel in Haigerloch genießen die le…
Bild: Spargel, Schinken, Stöckelschuhe. „Es gibt nichts, was man nicht nähe…
von Lena Müssigmann
In Haigerloch am Rande der Schwäbischen Alb, zu Besuch bei den Kunstfiguren
Dr. Löchle, Miss Jane Marple und ihrer Schöpferin: Stefanie Alraune
Siebert, 62.
Draußen: Tief im Tal zwischen steilen Muschelkalkfelsen steht am
klitzekleinen Marktplatz von Haigerloch das Gasthaus Schwanen. Die weiße
Fassade mit den rot eingerahmten Fenstern leuchtet grell in der Sonne.
Dort, wo eigentlich die Speisekarte hängt, wird angekündigt, was einen
drinnen erwartet: Die Seniorenresidenz Eyachfrieden.
Drinnen: Hinter der türkis gestrichenen Tür steht der Besucher vor einem
kleinen Eintrittsschalter. Statt des Stimmengewirrs und Geräuschpegels
eines Gasthauses dringt Musik ans Ohr. Sie kommt von rechts, aus dem
ehemaligen Gastraum. Dort nimmt das wilde Leben der Kunstmenschen von
Künstlerin Alraune ihren Anfang. Von da aus zieht sich deren Kunstwelt über
die drei Etagen des ehemaligen Hotels.
Kunstmenschen? Die Künstlerin Stefanie Alraune Siebert näht lebensgroße
Leute aus Stoff. Sie hat vor 37 Jahren damit angefangen und hat 70
Exemplare gefertigt. Alle Figuren stellen Senioren und Seniorinnen dar.
Unter ihren oft Basedow’schen Augen ziehen sich Nähte wie Falten durch den
weichen Stoff. Bei den Frauen sind die Wimpern getuscht, die Lider
schattiert, das Haar aufgetürmt, die Nägel lackiert. Sie tragen feine
Kleider aus glänzenden Stoffen und glitzernde Handtaschen. Auf den Köpfen
der Männer sitzen Zylinder, sie bitten die Frauen zum Tanz, schlemmen und
feiern mit ihnen. Siechtum im Altersheim? Das ist in der Seniorenresidenz
Eyachfrieden nicht mehr als eine ferne Legende.
Der Kunstname: Stefanie Siebert, die nur Alraune genannt werden will, trägt
lange rote Haare, roten Lippenstift, ein mit Rosen bedrucktes Kleid und auf
dem Kopf ein schwarzes Hütchen. Sie liebt das Skurrile, das Überzeichnete.
„Das Leben ist so fad, man muss was erfinden.“ Als gelernte
Textildesignerin betrieb sie Anfang der 80er Jahre in Stuttgart einen Laden
für ihre Entwürfe und nähte sich eine Braut für ihr Schaufenster. Eine
Kundin kaufte ihr die Figur ab. Alraune nähte eine neue Braut. Damit fing
die Geschichte der Kunstmenschen an. Sie dekorierte Schaufenster und
Messeauftritte mit der stetig wachsenden Familie ihrer Kunstfiguren.
Schließlich machte sie eigene Ausstellungen in deutschen Großstädten, in
Mailand und Rom. Für die Szenerien nähte Alraune auch Gegenstände:
Sektgläser, Schallplatten, Torten, Würste, ein Gewehr, eine Blutlache. „Es
gibt nichts, was man nicht nähen kann.“
Das Gasthaus: Alraune und ihr Mann, Hans Siebert, der ihr vor allem beim
Aufbau und in technischen Fragen wie der Beleuchtung hilft, haben das
Gasthaus in Haigerloch 2013 gekauft. Sie hatten gerade erst einen
Tiefschlag erlebt: Nach 30 Jahren in Tübingen hatten sie eine alte
Jugendherberge in Mecklenburg-Vorpommern gekauft, um den 70 Kunstmenschen
ein Zuhause zu geben. Doch die Feuchtigkeit im Gemäuer setzte den Figuren
zu. Als Schimmel gesichtet wurde, nahmen sie alle Reißaus und zogen zurück
in den Süden.
Bauchentscheidungen: „Ich denke mit dem Bauch“, sagt Alraune. Sie sei mit
ihrer Idee erfolgreich, weil sie damit ein Bauchgefühl bei den Menschen
treffe. Fragen nach dem Warum, Wieso, Weshalb mag sie nicht. „Ich hab viel
gemacht, ohne zu wissen, wofür eigentlich.“ Inzwischen näht sie keine neuen
Figuren mehr. Sie würde ihre Kunstmenschen sogar verkaufen, alle auf
einmal. „Vielleicht würde ich Miss Marple behalten, die ist mir sehr gut
gelungen.“
Jahreszeiten: Im Sommerhalbjahr ist das Museum geöffnet. Busse voller
SeniorInnen auf Ausflugsfahrt machen in Haigerloch Halt, wo die Alten
Alraunes Vision vom Alter gegenüberstehen. Die Reaktionen? „Belustigt,
erheitert, erschlagen.“ Im Winterhalbjahr bessert die Künstlerin die
Figuren aus, trennt oder schneidet Gesichter auf, näht Figuren um. „Da kann
man seinen Sadismus voll ausleben.“ Und sie entwickelt eine neue Idee, was
sie mit ihren Kunstmenschen in der nächsten Saison darstellt: eine
Metzgerei und eine Klinik waren schon dabei. Jetzt also die
Seniorenresidenz. Sie schreibt kurze Texte, die jede Szene in den einzelnen
Hotelzimmern schildern, absurd und lustig. Zum Beispiel von James und
Sophie, die sich in der Kinderwunschpraxis von Dr. Löchle im hohen Alter
ein Baby zaubern ließen, über das gemunkelt wurde, es sei nicht mehr als
eine lebende Wurst.
Sich ausliefern: Zunächst wohnten die Sieberts mit ihren Puppen zusammen im
Haigerlocher Gasthaus. Zwei Menschen, 70 Kunstmenschen. Ist das nicht
gruselig? „Am schönsten ist es, hier allein zu sein. Dann ist man denen
ausgeliefert.“
Schönheit:Alte Menschen faszinieren Alraune. Inspiration für ihre Figuren
findet sie unter anderem in menschlichen Gesichtern, die geliftet,
unsymmetrisch, exzentrisch sind. Das spiegle Lebenserfahrung, Enttäuschung,
Sehnsucht. Ihre Kunstmenschen als Puppen zu bezeichnen ist verboten. „Eine
Puppe ist was Hübsches.“ An einem roten Vorhang im oberen Stockwerk hängt
ein Zettel: „Puppen sind tot, es leben die Figuren“. Daneben steht:
„Nähmaschinen haben keine Fantasie und werden überbewertet“. Sie näht al…
Details von Hand, nur lange Strecken mit der Maschine.
Fantasie: Die Fantasie war für Alraune in einer schwierigen Kindheit eine
Rettungsinsel. „Man schafft sich sehr früh eine eigene Welt. Das hab ich
auch ganz gut durchgezogen“, sagt sie heute. Eine Seniorenresidenz –
eigentlich ein grässlicher Ort, findet sie. Aber das Grässliche schön zu
machen, das ist ihr Antrieb, ihre Absicht. „Die schmeißen hier die Krücken
weg.“ Die Stoffe kauft sie vorwiegend auf Flohmärkten. „Alte Blusen eignen
sich gut für Fische.“ Auf dem Flohmarkt, „da lauert die Überraschung“.
Und die Gegenwart: Schulz oder Merkel?Dem SPD-Kandidaten Martin Schulz kann
sie nichts abgewinnen. „Zu schnell an die Oberfläche gespült.“ Wie ist es
mit Merkel? Die ist auch nicht ihr Fall. Alraune hat die Kanzlerin schon
einmal genäht. „Aus Höflichkeit. Aber die wurde so wichtig genommen.“ Also
hat sie den Kunstmenschen Angela Merkel aufgetrennt und umgenäht. Zu einem
Selbstporträt.
10 Jun 2017
## AUTOREN
Lena Müssigmann
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