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# taz.de -- Schweigen Bis in die 1970er-Jahre hinein wurden behinderte Kinder u…
Bild: 1979 enthüllte das Zeit-Magazin die Zustände in den damaligen Alsterdor…
von Michael Wunder
Die haben uns behandelt wie Gefangene“, so betitelte die Evangelische
Stiftung Alsterdorf vor einigen Wochen eine Veranstaltung, bei der es auch
um die eigene Geschichte ging: um die Gewalt und das Unrecht, die
behinderten Kindern und Jugendlichen noch bis in die 1970er-Jahre hinein in
den Anstalten widerfuhren.
Die Geschichte der Anstalten in der Zeit nach 1945 ist bisher nur an
wenigen Orten aufgearbeitet worden. Einer größeren Öffentlichkeit wird erst
langsam klar, was damals dort passiert ist. Und erst seit Kurzem können die
Betroffenen, sofern sie heute noch leben, offen darüber reden, ohne dass
ihre Berichte übergangen oder als unglaubwürdig abgetan werden.
Körperliche Züchtigungen, sexuelle Übergriffe, Isolierung, Fixierung,
Bestrafung mittels Essens- oder Schlafentzug, Demütigungen, Medikation zur
Ruhigstellung gehörten zum Alltag. Es war ein Leben im Getto, weggesperrt
von der Gesellschaft, ohne Aussicht auf ein normales Leben und den
Schwestern und Pflegern, die es nur selten gut meinten, ausgeliefert.
Wieso erfolgte die Aufarbeitung dieser Geschehnisse, das Sprechen darüber
und schließlich auch die Anerkennung als entschädigungsfähiges Unrecht erst
jetzt und erst so spät? Es fällt auf, wie viel heute über die NS-Zeit in
den Anstalten, Heimen und Psychiatrien aufgearbeitet ist und wie wenig über
die Jahrzehnte nach 1945 in eben denselben Anstalten und Heimen. Die Scham,
die die Aufarbeitung der NS-Zeit so lange blockiert hat, spielt
offensichtlich wegen der zeitlichen Nähe hier eine noch wirksamere Rolle.
Vieles, was jetzt berichtet wird, war in den Anstalten und Heimen zwar
immer präsent, es drang aber nicht heraus und es wurde innerhalb wie
außerhalb schamhaft beschwiegen. Diejenigen, die versuchten, es öffentlich
zu machen wie beispielsweise 1979 der Alsterdorfer Kollegenkreis, eine
Gruppe junger, engagierter Mitarbeiter, die die Dinge, die sie während
ihrer Arbeit sahen, einfach nicht hinnehmen wollten, wurden als
Nestbeschmutzer denunziert und von Kündigung bedroht.
Auch die Evangelische Stiftung Alsterdorf, deren langsamer Reformprozess
und später vollzogene Auflösung und Neuorientierung mit den Aktivitäten des
Kollegenkreises eingeleitet wurde, hat die wissenschaftliche Aufarbeitung
der Geschichte der 1950er- bis 1970er-Jahre erst 2012 begonnen und 2013
publiziert. Das war lange nachdem der Umzug der Bewohnerinnen und Bewohner
in die Stadtteile, ihre Anerkennung als Bürgerinnen und Bürger und die
Umorientierung der Arbeit von einer gängelnden Betreuung zu einer
Begleitung in ein selbständiges Leben vollzogen war. „Mitten in Hamburg“
heißt das Buch und will damit nicht den Ort bezeichnen, wo Menschen mit
Behinderung heute angekommen sind, sondern den Ort, wo all das
Ungeheuerliche in den Jahren 1945–1979 stattfand, nämlich mitten in der
Stadt.
„Die Tür war zu, die wurde nur aufgemacht, wenn das Essen gekommen ist“,
berichtet eine Bewohnerin in dem Buch. „Schlagen war ganz normal“, eine
andere. „Man durfte nicht allein sein. Das war das schlimmste“, erzählt ein
Bewohner, der noch heute daran leidet, dass er immer unter der Kontrolle
der Pfleger und der Gruppe sein musste, beim Essen, beim Schlafen und auch
auf der Toilette, auf der es keine Trennwände gab. Was die Betroffenen
erlebt und erlitten haben, welche Traumata damit ausgelöst wurden, wurde
lange Zeit, eine viel zu lange Zeit, nicht für den Skandal gehalten, der es
war. Ganz offensichtlich auch noch weit in die Jahre der Reformen hinein.
Ich greife mir hier auch an die eigene Nase. Haben wir Jüngeren, die wir
Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre neu in den Anstalten angefangen
haben, anpacken wollten und auch zu einem guten Teil angepackt haben, es
ebenfalls nicht ganz ernst genommen? Zu lange hingenommen? Oder gar für so
alltäglich gehalten, dass es des öffentlichen Berichts nicht würdig sei?
Was die Aufarbeitung dieser Zeit zu Tage gebracht hat, sind nicht nur die
unerträglichen Kontinuitäten aus der Zeit vor 1945, sondern auch eine
interessante Binnenwelt der Anstalt. Eine Welt der Abschottung und des
Beharrens auf Altem, aber auch vorsichtigen Annährungen an modernere
pädagogische und therapeutische Vorstellungen – sicherlich nicht untypisch
für viele vergleichbare Einrichtungen der Behindertenhilfe und der
Psychiatrie.
Zur Kontinuität aus der NS-Zeit ist zu sagen, dass 1945 natürlich wie
vielerorts eine neue Leitung kam. Aber wegen des Arbeitskräftemangels und
einer theologisch begründeten Haltung des Vergebens wurden Tätern und
Mittätern „Persilscheine“ ausgestellt, damit sie aus den „Belastungen“…
NS-Zeit unbeschadet herauskamen. Viele arbeiteten deshalb einfach in
Alsterdorf wie in anderen vergleichbaren Einrichtungen weiter. Sie
selektierten dann zwar nicht mehr die „Schwächsten der Schwachen“ zur
Euthanasie, aber sie versahen ihren Dienst mit derselben Abwertung und
Verachtung für die Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung wie
früher. Es gab, wie in so vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen der
Bundesrepublik, 1945 keinen wirklichen Bruch mit der Vergangenheit.
In diesem Milieu konnten sich die alten Ideen von Zucht und Ordnung, von
Bestrafung und Isolation bei Fehlverhalten und Begünstigung bei
Wohlverhalten natürlich trefflich fortsetzen. Und mit den neuen
medikamentösen Möglichkeiten konnte der Wachsaal zur Dopingstation
mutieren, in dem nicht nur pädagogisches Versagen pharmakologisch
vertuscht, sondern unangepasstes Verhalten drastisch bestraft wurde. Und
die NS-Geschichte selbst wurde– das ist heute hinlänglich bekannt – bis in
die 1980er-Jahre unter Verschluss gehalten.
27 May 2017
## AUTOREN
Michael Wunder
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