# taz.de -- Lückenfüller Lange schon gab es Ideen für ein undogmatisches lin… | |
Bild: Ein Sticker des Tunix-Kongress 1978 (oben); die erste taz-Ausgabe überha… | |
von Wolfgang Gast | |
Die Laudatio auf die taz hielt der Schriftsteller Peter Schneider: | |
„Streunende Kinder drückt man nicht ungebissen an die Brust“, schrieb er, | |
„und ein frühreifes kratzbürstiges Mädchen war die taz bereits im | |
Wickelalter. Ein Waisenkind, ein garstig Kind, gepäppelt und herumgestoßen | |
von tausend selbsternannten Eltern, die bis heute um Alleinerziehungsrechte | |
streiten. Im Schutz dieses Gerangels um das Sorgerecht hat sich das Kind | |
prächtig entwickelt und seine Erziehung in die eigene Hand genommen.“ | |
Schneider, einer der führenden Köpfe der Berliner Studentenbewegung Ende | |
der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, war damals im Berliner Wedding | |
auf Hausbesuch, dort, wo damals die taz noch ansässig war. Anlass war der | |
zehnte Geburtstag dieser Zeitung. Und der, so Schneider, habe es in sich. | |
Zum Schrecken vieler seiner Eltern habe das Kind geradezu eine Brillanz | |
entwickelt, bei der es sich vermutlich aber um eine Trotzbegabung handeln | |
muss. „Denn das Geburtstagskind hat, obwohl noch nicht in der Pubertät, | |
bereits eine stattliche Zahl von Vater- und Muttermorden hinter sich und | |
erkennt nur noch Wahleltern an. Elternbesuch, von wem auch immer, ist | |
grundsätzlich nicht erwünscht, weswegen vermeintliche Sorgeberechtigte sich | |
immer wieder mit dem Mittel der Hausdurchsuchung oder auch -besetzung | |
Zutritt zu dem undankbaren Wechselbalg verschaffen.“ | |
## Das „Projekt tageszeitung“ füllte eine mediale Lücke | |
Das war 1989, und die taz verwaltete das chaotische Erbe jener Leute, die | |
in der grauen Achtundsechziger-Vorzeit „Spontis“ hießen. Obwohl den Spontis | |
erst vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und später von allen | |
K-Gruppen ein historisch unausweichliches Ende mit Schrecken prophezeit | |
worden war, erweist sich diese Spezies unter den linken Arten als die | |
lebensfähigste. | |
In den Nachbarländern Italien und Frankreich hatten linke Gruppen lange vor | |
der taz auflagenstarke, wenn auch kurzlebige Zeitungen hervorgebracht: In | |
Italien Lotta Continua, in Frankreich Libération. Dass das Spontiwesen im | |
Gegensatz zu den mediterranen Nachbarn ausgerechnet in Deutschland eine | |
jahrzehntelange Tradition entwickeln konnte, ist für Schneider | |
„wahrscheinlich auf die Unfähigkeit zu einem kohärenten Weltbild dieser | |
Gruppe zurückzuführen; anders und positiv gesagt auf ihr Misstrauen gegen | |
‚ewige Wahrheiten‘ “. | |
Schöner als Peter Schneider konnte man dem „Projekt tageszeitung“ gar nicht | |
gratulieren – und der Literat wusste dies auch: „Wer einem solchen Kind | |
gratuliert, muss sich vorsehen. Geburtstagstorten wirft es zurück, und | |
duldet Zärtlichkeiten nur, wenn sie schmerzen.“ | |
Die taz entstand in der Folge des Tunix-Kongresses im Januar 1978 in | |
Berlin, der Geburtsstunde der Alternativbewegung. Sie war eine Reaktion auf | |
den „Deutschen Herbst“ 1977, der Kriegserklärung der Roten Armee Fraktion | |
an die Bundesrepublik, die mit der Entführung und Ermordung des | |
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der Befreiung des entführten | |
Lufthansa-Jets „Landshut“ in Mogadischu und dem anschließenden Suizid der | |
RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Ende Oktober | |
jenes Jahres ihren Höhepunkt fand. „Dann kam der Herbst“, schrieben nach | |
einen Treffen die „Initiativgruppen“, die den Aufbau einer landesweiten, | |
dezentralen linken Zeitung mit einer „Prospekt Tageszeitung“ betitelten | |
Broschüre vorantrieben: „Während wir uns die Augen rieben, verwirrt und | |
betroffen die staatliche Inszenierung Stammheim/Mogadischu mit Schmidt als | |
Regisseur, den Medien als Choreografie und uns als Statisten erlebten, | |
unter Zwang. Doch Herbst ist auch die Zeit der Reife. Zwar existierte das | |
Projekt einer linken Tageszeitung schon in den Köpfen von | |
Ostermarschierern, auf den Barrikaden gegen Springer oder in den Stuben der | |
Wissenschaft. Aber noch nie fielen Notwendigkeit und Bedürfnis so offen | |
zusammen wie seit den Tagen der Großen und Kleinen Krisenstäbe, die sich | |
den Punkt Medienlage jeweils auf Platz eins ihrer Tagesordnung zu setzen | |
gewohnt waren.“ | |
Der Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele, Jean-Marcel Bouguereau von der | |
französischen Libération und Achim Meyer vom Münchner Blatt verkündeten dem | |
Publikum des Tunix-Kongresses in Berlin die Pläne der Gründung eines linken | |
Tagesblattes. Bis Ende des Jahres bilden sich Initiativgruppen in 30 | |
Städten. | |
Tatsächlich war eine Zeitung wie die taz nötig – kulturelle und politischen | |
Diskurse jener Szenen, die später als alternative Bewegung verstanden | |
wurden, fanden in den klassisch-bürgerlichen Medien kaum Resonanz. Die taz | |
füllte die publizistische Lücke für ein Milieu, das mit den Grünen in | |
bundesdeutschen Parlamenten präsent sein und nicht wieder verschwinden | |
sollte. | |
Bis Ende des Jahres sind Bestellungen für 1534 Voraus-Abos eingegangen. In | |
25 Städten bereiten „taz-Inis“ die Zeitungsgründung vor. Aus einigen von | |
ihnen entstehen später Regionalredaktionen: Hannover, Freiburg, Frankfurt | |
oder München, vor allem aber die taz-Regionalausgaben Hamburg und Bremen. | |
Das „Nationale Plenum“, basisdemokratisches Gremium aller Gruppen, | |
beschließt nach intensiver Diskussion im Dezember in Frankfurt am Main, | |
dass der Sitz der künftigen Zentralredaktion in Berlin sein wird. | |
Berlin-Förderung und günstige steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten geben | |
den Ausschlag für die Mauerstadt. Für den Beginn der täglichen Produktion | |
wird der 2. April 1979 avisiert. In weiteren Nullnummern erarbeitet die | |
entstehende Redaktion eine neue Tageszeitung. | |
## Vom Wedding in die Mitte der Hauptstadt | |
Seit dem 17. April 1979 erscheint die taz – der Name lautet so lapidar wie | |
anspruchsvoll: „Die Tageszeitung“, als seien alle anderen irgendwie | |
nachrangig – täglich. Die Startauflage liegt bei 63.000 Exemplaren, | |
verkauft werden von der ersten Ausgabe rund 20.000. Zentralredaktion und | |
Verlag sitzen in der Weddinger Wattstraße. Das Einheitsgehalt der | |
MitarbeiterInnen beträgt 800 DM. Die erste Vorausgabe erschien am 27. | |
September 1978. Allerdings trug sie das Datum 22. September – fünf Tage | |
hatte die Bearbeitung der „Nullnummer Nr. 1“ mit 16 Seiten gedauert. Sie | |
enthielt einen doppelseitigen Bericht des Schriftstellers und Journalisten | |
Gabriel García Márquez über den Sieg der Sandinistas in Nicaragua. Weitere | |
Schwerpunkte waren die geplante Wiederaufbereitungsanlage für Atommüll in | |
Gorleben, die Verhaftung von Astrid Proll, einst Mitbegründerin der RAF, | |
ein Interview mit einer Animierdame einer Peepshow, der Widerstand gegen | |
Uranbergbau im Schwarzwald sowie das Nato-Großmanöver „Autumn Force“. | |
Die Pubertät der „tageszeitung“ ist längst vorbei. Ein Zeichen ihres | |
Erwachsenseins ist, dass es sie noch gibt. Und dass sie im kommenden Jahr | |
in ihr neues Haus ziehen wird. | |
24 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Gast | |
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