# taz.de -- „Hysterische Angst vor dem Kommunismus“ | |
> meinungsfreiheit Die niedersächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung | |
> des Radikalenerlasses, Jutta Rübke (SPD), fand heraus dass dass 170.000 | |
> BewerberInnen auf ihre Gesinnung hin überprüft wurden. Über den Schaden | |
> für die Betroffenen und die Demokratie | |
Bild: Wie verfassungstreu muss der Postbote sein? Willy Brandts Radikalenerlass… | |
Interview Tobias Brück | |
taz: Frau Rübke, wie viele Berufsverbote wurden im Land Niedersachsen von | |
1972 bis 1988 überhaupt ausgesprochen? | |
Jutta Rübke: Da variieren die Zahlen und können nur geschätzt werden. Ich | |
vermute, dass etwa 300 Berufsverbote erteilt wurden. | |
Bislang sprachen Sie von 130 Verboten. | |
Bisher sind wir noch nicht im Kultusministerium gewesen und haben dort die | |
Akten durchsehen können. Insoweit ist die Zahl 300 eine ungefähre. | |
Allerdings sind darunter auch Personen, die nach ihrer Referendariatszeit | |
nicht übernommen wurden. | |
Sie haben herausgefunden, dass rund 170.000 Bewerber für den öffentlichen | |
Dienst in Niedersachsen auf ihre politische Gesinnung hin überprüft wurden. | |
Wie funktionierte das? | |
Die Prüfung wurde abgefragt, ob die Bewerber einer Partei angehörten. Es | |
wurde eine sogenannte Regelanfrage gestartet. Man konnte nur das auswerten, | |
was beim Verfassungsschutz vorgelegen hat. Unter Verdacht standen damals | |
die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), der Kommunistische Bund | |
Westdeutschland (KBW) und andere Gruppierungen, die sich in den | |
1970er-Jahren in studentischen Kreisen gebildet hatten. | |
Haben diejenigen, die nicht sanktioniert wurden, von ihrer Überprüfung | |
mitbekommen? | |
Die meisten nicht. Vielleicht haben es manche geahnt. Ich selbst habe auch | |
an Friedensdemonstrationen teilgenommen und wir haben gewusst, dass wir | |
fotografiert und beobachtet werden. | |
Waren Sie selbst von einem Berufsverbot betroffen? | |
Nein, persönlich war ich nicht betroffen. | |
Wurde mit den Überprüfungen ein Klima der Angst erzeugt? | |
Eher ein Klima der Einschüchterung. Auch diejenigen, die nicht betroffen | |
waren, sagen, dass das Klima im Lehrer- und Klassenzimmer sich dadurch | |
verändert hat. Man überlegte sich, ob man erzählt, dass man nächste Woche | |
wieder nach Gorleben fährt. | |
Für was wurden die Berufsverbote ausgesprochen? | |
Wir können bis heute nicht genau erkennen, nach welchem System die | |
Anhörungskommission vorgegangen ist. | |
Wurden Personen persönlich interviewt? | |
Man hat etwa 300 Leute zu einer sogenannten Anhörungskommission eingeladen. | |
Sie waren aufgefallen, indem sie bei Friedensdemonstrationen mitgemacht, | |
Infostände der Deutschen Kommunistische Partein (DKP) organisiert und | |
unterstützt oder bei Wahlen für die DKP kandidiert hatten. Dort wurden sie | |
mit Fragen dahingehend überprüft, ob sie auf der freiheitlich | |
demokratischen Ordnung der BRD standen. | |
Wurden Berufsverbote gleichermaßen gegen Rechts- und Linksextreme | |
ausgesprochen? | |
Wir wissen von drei Berufsverboten aufgrund rechtsextremer Aktivitäten. | |
Also fokussierte sich die Berufsverbotspraxis im Grunde nur auf Linke? | |
Ja. Dies ist der hysterischen Angst vor dem Kommunismus geschuldet. | |
Was war damals die Rechtsgrundlage? | |
1972 hat der damalige Bundeskanzler Willy Brandt den Radikalenerlass | |
verfügt. Die Überprüfungen waren aber verfassungsrechtlich nicht in | |
Ordnung. Das hat dem Staat und der Demokratie geschadet. | |
Inwiefern? | |
Willy Brandts Thema war „Mehr Demokratie wagen“. Ausgerechnet dieser | |
Bundeskanzler erlässt solche Berufsverbote. Das hat die Demokratie | |
erschüttert. | |
Weil politischer Aktivismus unter einen Generalverdacht gestellt wurde? | |
Auch als junge Sozialdemokraten waren wir der Meinung, dass Menschen, die | |
dem Kommunismus anhängen, ein Recht darauf haben, dies zu sagen und auch | |
dafür zu werben. | |
Muss eine pluralistische Gesellschaft das aushalten? | |
Ja! Wir haben auch ausgehalten, dass nach 1945 Nazis in die Klassen- und | |
Gerichtsräume zurückkehrten. Aber 40.000 Kommunisten wurde unterstellt, | |
dass sie die Bundesrepublik umstürzen wollen. Das steht in keinem | |
Verhältnis. | |
Wie groß war der Schaden für die Betroffenen? | |
Diejenigen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten, mussten andere | |
Berufe erlernen. Lehrer bekamen einen Teil ihrer Besoldung ausgezahlt, | |
durften aber nicht unterrichten. Das hat auch eine Auswirkung auf ihre | |
jetzigen Rentenzahlungen. Für sie beinhaltete das Berufsverbot eben auch | |
einen finanziellen Schaden. | |
Sie arbeiten auch mit Betroffenen zusammen. Wie sieht dies konkret aus? | |
Ich war auf der bundesweiten Initiativenkonferenz in Hannover. In meiner | |
Arbeitsgruppe sind auch Betroffene vertreten. Darüber hinaus führe ich | |
viele Einzelgespräche und werde auch von Betroffenen eingeladen. Ich | |
versuche in einen Dialog mit ihnen zu treten, um nicht über sie, sondern | |
mit ihnen zu sprechen. | |
Wie wichtig ist die Aufarbeitung für die Betroffenen und ihre Forderung | |
nach Entschädigung? | |
Die Opfer werden erstmals anerkannt und wahrgenommen. Die Aufarbeitung ist | |
deshalb so wichtig, weil es ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte | |
ist, die nicht verloren gehen darf. Dies darf in diesem Maße nie wieder | |
geschehen. Das Wichtigste ist, dass die Dokumentation Eingang in die | |
politische Bildung des Landes Niedersachsen findet. Die finanzielle | |
Entschädigung ist nicht mein Auftrag. Ich kann in meinem Abschlussbericht | |
aber eine Empfehlung abgeben. | |
Warum lehnen CDU und FDP die Aufarbeitung des Radikalenerlasses ab? | |
Sie können nicht anerkennen, dass den Betroffenen Unrecht geschehen ist und | |
dass es eine Rehabilitierung geben muss. Den Beweis, dass nicht alle | |
Berufsverbote ein Unrecht waren, bleibt uns die CDU schuldig. | |
Und heute? Werden bald alle Bewerber für den öffentlichen Dienst auf ihre | |
islamistische Gesinnung hin überprüft? | |
Nein. Ich glaube, dass wir im Hinblick auf den Islam nicht hysterisch | |
werden dürfen. In konkreten Einzelfällen, in denen ein Verdacht vorliegt, | |
kann eine Überprüfung gerechtfertigt sein. Der Verdacht darf aber auf | |
keinen Fall einseitig sein. | |
Ab wann ist ein Verdacht gerechtfertigt? | |
Wenn ich einen Reichsbürger im Dienst habe, der pausenlos Parolen von sich | |
gibt. Es ist aber egal, ob die Parolen von rechter oder linker Seite | |
kommen. | |
Keiner möchte Nazis oder Islamisten als Lehrer haben. Wie sollte also damit | |
umgegangen werden? | |
Was absolut untersagt werden muss, sind Regelanfragen. In speziellen | |
Einzelfällen sollte dann aber die Schule und nicht der Staat für die | |
Anordnung einer Überprüfung zuständig sein. | |
16 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Tobias Brück | |
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