# taz.de -- Die Misere der Piratenpartei: Klarmachen zum Kentern | |
> Vor fünf Jahren waren sie noch Politstars. In Schleswig-Holstein und NRW | |
> dürften die Piraten aus den letzten Landtagen fliegen. | |
Bild: „Die Aufmerksamkeit für Landespolitik ist begrenzt“: Patrick Breyer,… | |
Kiel/Düsseldorf taz | „Das Kondom, die Kaffeemaschine, die Pizzakartons: | |
Die haben uns fertiggemacht.“ Michele Marsching sitzt im | |
nordrhein-westfälischen Landtag, als er auf den optimistischen | |
Marketingsprech der Politik verzichtet. Der Fraktionschef der Piraten denkt | |
über die Skandale und Skandälchen nach, die seine Abgeordneten in einer | |
merkwürdigen Mischung aus Arroganz und Naivität kurz nach ihrem Einzug ins | |
Parlament 2012 produziert haben – und die von Boulevardmedien dankbar | |
ausgeschlachtet wurden. Draußen schieben sich Binnenschiffe träge den Rhein | |
herauf. | |
Einfach dumm war die Sache mit dem Fastfoodmüll, den seine damals noch 20 | |
Piraten ohne Rücksicht aufs Personal in der Landtagskantine abluden. Dann | |
der Running Gag mit dem Kaffeeautomaten: Mehr als ein halbes Jahr lang | |
wurde über den bei jeder live ins Internet gestreamten Fraktionssitzung | |
gestritten. Dazu die seltsamen Tweets, in denen die Piraten-Abgeordnete | |
Birgit Rydlewski ihr Sexleben verbreitete. „So: Allen lieben Dank, die | |
wegen des gerissenen Kondoms mitgezittert haben“, schrieb sie. „Alle Tests | |
negativ! (also kein HIV, Hep. B, Hep. C)“. | |
Kometenhaft waren die politischen Freibeuter zuvor in vier Landesparlamente | |
eingerückt. Fast 9 Prozent holten sie 2011 bei der Wahl in Berlin. Im | |
Frühjahr darauf wählten rund 7 Prozent der Saarländer die Newcomer. Und im | |
Mai desselben Jahres nahmen sie die Fünfprozenthürden auch in | |
Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen und erzielten jeweils rund 8 | |
Prozent. | |
## Das One-Hit-Wonder | |
Fünf Jahre später aber ist die Partei ein Wrack – von ihrem einstigen | |
Slogan „Fertigmachen zum Entern“ ist nichts mehr zu hören. Bekannte | |
PiratInnen wie die einstige Bundesgeschäftsführerin Marina Weisband, die | |
Internetaktivistin Anke Domscheit-Berg oder der Blogger Udo Vetter sind | |
längst ausgetreten. In Berlin ist die Partei bei den vergangenen Wahlen aus | |
dem Abgeordnetenhaus, im Saarland aus dem Landtag geflogen. | |
Der Untergang droht den Piraten auch bei den Landtagswahlen am 7. Mai in | |
Schleswig-Holstein und am 14. Mai in NRW. In den Prognosen sind sie kaum | |
noch messbar, liegen in beiden Ländern weit unter 1 Prozent. Wie ein | |
One-Hit-Wonder sind sie auch im Norden und Westen in der Versenkung | |
verschwunden. Denn der Hype um die Partei, die keine richtige Partei sein | |
will, der ist Vergangenheit. „Für einen kurzen Moment in der Geschichte | |
hatten sie ein prägendes Thema“, analysiert der Kieler Politologe Wilhelm | |
Knelangen: „direkte Demokratie, Datenmissbrauch und Bürgerrechte.“ Heute | |
aber dominiere „die Flüchtlingspolitik und damit verbunden die innere | |
Sicherheit“ die politische Agenda. | |
Führende Piraten machen dagegen die Medien für das Scheitern | |
mitverantwortlich – Zeiten, in denen die Freibeuter glauben, ihre | |
WählerInnen über das Netz, über Blogs, Facebook, Twitter & Co abholen zu | |
können und Gedrucktes witzelnd „Totholz“ nannten, sind längst vorbei. „… | |
Presse hat uns abgeschrieben“, findet etwa NRW-Fraktionschef Marsching. | |
Nach den anfänglichen Skandalen sei über die Arbeit seiner Fraktion | |
„einfach nicht mehr berichtet“ worden. | |
„Wer nur die Bundespresse verfolgt, hat erst den Hype um uns mitbekommen | |
und dann die vielen internen Streitereien“, sagt auch der Kieler | |
Piraten-Fraktionschef Patrick Breyer – und meint nicht nur den Latschen | |
tragenden Weisband-Nachfolger Johannes Ponader, der seine Parteiarbeit über | |
Hartz IV finanzieren wollte. Und wer auf der bundesweiten Agenda keine | |
Rolle mehr spielt, wird auch auf Landesebene kaum wahrgenommen: „Die | |
Bundespolitik prägt die generelle Einschätzung der Parteien“, sagt der | |
Politikwissenschaftler Knelangen. „Die öffentliche Aufmerksamkeit für | |
Landespolitik ist begrenzt“. | |
Seriöse Arbeit, wie sie die Piraten in Kiel und Düsseldorf trotz allem | |
Streit auch abgeliefert haben, reicht deshalb nicht. Dabei attestieren | |
ihnen selbst politische Gegner anerkennend, überaus fleißig gewesen zu | |
sein. Selbst aus der Opposition heraus konnten sie Erfolge verbuchen. | |
Allerdings weiß kaum jemand, dass es die Piraten waren, die im Kieler | |
Landtag per Antrag dafür gesorgt haben, dass am 7. Mai erstmals auch | |
16-Jährige wählen können. Erfolgreich war auch eine Initiative gegen | |
Waffenlieferungen in Krisengebiete: Die Küstenkoalition aus SPD, Grünen und | |
dem Südschleswigschen Wählerverband der dänischen Minderheit versprach, | |
sich auf Bundesebene gegen Waffenexporte starkzumachen. | |
## Affären prägten das Bild | |
In NRW machten die Piraten Druck für eine humanere Flüchtlingspolitik: | |
Parteichef Patrick Schiffer forderte die rot-grüne Landesregierung auf, die | |
nach Blockade der Balkanroute leerstehenden Unterkünfte für Schutzsuchende | |
zu öffnen, welche in Griechenland unter katastrophalen Bedingungen | |
festsitzen. Vor dem Hintergrund der jobfressenden Digitalisierung wirbt die | |
Partei für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Und per großer Anfrage | |
versuchte Joachim Paul, bis 2015 Fraktionschef und heute | |
hochschulpolitischer Sprecher, den überragenden Einfluss der Bertelsmann | |
Stiftung auf die Landespolitik zum Thema zu machen: Die Stiftung sei den | |
neoliberalen Zielen ihres Gründers Reinhard Mohn verpflichtet – nicht | |
umsonst erkläre seine Witwe Liz Mohn, der „anonyme Wohlfahrtsstaat“ habe | |
„ausgedient“. | |
Von den WählerInnen in NRW wahrgenommen wurden aber vor allem | |
Auflösungserscheinungen und Affären: Der Landtagspirat Robert Stein lief | |
bereits 2014 zur CDU über. Stein machte den ehemaligen Fraktionschef Paul | |
mit dessen Forderung nach einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich | |
für einen „ins Marxistische“ abgleitenden Kurs verantwortlich – und | |
bescheinigte dem Rest der NRW-Fraktion, „eigentlich unpolitisch“ zu sein. | |
Der Abgeordnete Daniel Schwerd wechselte dagegen 2016 zur Fraktion der | |
Linken. | |
Seit der Pirat Daniel Düngel als Landtagsvizepräsident zurücktreten musste, | |
weil trotz Diäten von 11.046,46 Euro brutto im Monat Gläubiger hinter ihm | |
her waren und sogar ein Antrag auf Vollstreckung eines Haftbefehls vorlag, | |
ist die Fraktion von der Organisierung des Parlamentsbetriebs | |
ausgeschlossen. Das wiederum brachte den Abgeordneten Dietmar Schulz, der | |
sich Hoffnungen auf die Düngel-Nachfolge gemacht hatte, zum Austritt. Die | |
Finanzprobleme seien „beim Hausbau“ entstanden – mehr will Düngel zu der | |
Sache auch heute nicht sagen. | |
Entsprechend schwierig ist der Wahlkampf. Auf der Straße laufe es „gar | |
nicht schlecht“, erklärt Fraktionschef Marsching zwar. Allerdings: Vielen | |
WählerInnen sei gar nicht klar, dass die Piraten noch im Landtag sitzen, | |
gibt er auch zu. „Euch gibt’s noch – schön“, sagten viele. Außerdem f… | |
die Unterstützung der Basis. Die Zahl der Mitglieder ist allein in NRW von | |
4.500 auf 1.700 gefallen. Besonders auf dem Land ist die Partei damit kaum | |
noch präsent: „In meinem Wahlkreis Kleve gibt es nur noch zwei aktive | |
Piraten“, sagt Marsching. „Allein stelle ich mich da nicht hin.“ | |
Nicht rund läuft es auch in Schleswig-Holstein. Zwar kamen die Piraten | |
zwischen Nord- und Ostsee nicht so zerstritten rüber wie in NRW. Als | |
schlagkräftiges Team präsentierten sie sich aber auch nicht: „Die Piraten | |
sind eine Truppe von Einzelkämpfern geblieben, alle haben ihre eigenen | |
Süppchen gekocht“, findet der Politologe Knelangen. Abgeordnete wie | |
Landtagsfraktionschef Breyer oder die ehemalige Grünen-Bundesvorsitzende | |
Angelika Beer hätten ihre innen- und umweltpolitischen Themen vehement | |
vertreten, ohne inhaltlich mit einer Parteilinie in Verbindung gebracht zu | |
werden: „Das hat dazu geführt, dass die Piraten zu wenig als gemeinsame | |
Fraktion wahrgenommen wurden.“ | |
Außerdem haben die Piraten im Norden oft keine klaren Positionen, weil sie | |
stets auf den Bürgerwillen setzen. Natürlich sind die Piraten für die | |
Energiewende – aber dort, wo gegen neue Windparks kraftvoll protestiert | |
wird, stellen sich die Piraten auf die Seite der Windparkgegner. Ein | |
politisches Profil lässt sich so nicht schärfen. Immerhin: Weil Themen | |
fehlen, hat Breyer ankündigt, über 40.000 Euro Abgeordnetendiäten | |
zurückzuzahlen, um ein Signal gegen die aus seiner Sicht zu hohen Bezüge | |
für Politiker setzen. Das reichte zumindest für ein paar Schlagzeilen. | |
## Kämpfen bis zum Schluss | |
Es bleiben Durchhalteparolen: „Verloren ist noch nichts, wir werden bis zur | |
Wahl kämpfen“, sagt Breyer in Kiel. In Düsseldorf verspricht Marsching, die | |
Partei werde „den Action-Regler nach oben schieben“ – über seine Piraten | |
als außerparlamentarische Opposition will er gar nicht erst nachdenken: | |
„Ich will hier weitermachen“, sagt er in seinem Landtagsbüro, in dem | |
einstmals auch der Fraktionschef der 2012 aus dem Parlament geflogenen | |
Linken saß. | |
Möglich machen sollen das gut gemachte Wahlplakate und aufwendig gestaltete | |
Websites, auf denen Marsching auch schon mal in der Uniform eines „Star | |
Trek“-Kommandanten der Sternenflotte zu sehen ist. Realisten fürchten | |
dagegen, dass sich die Partei aufwendige Werbung nicht mehr lange leisten | |
könnte: „Wenn wir unter einem Prozent landen und deshalb aus der | |
staatlichen Parteienfinanzierung fliegen“, sagt Marschings Vorgänger Paul, | |
„dann wird es für uns sehr, sehr schwer.“ | |
5 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Marco Carini | |
Andreas Wyputta | |
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