# taz.de -- Kurz vor dem Referendum: Zerrissen zwischen Ja und Nein | |
> Bringt das Präsidialsystem die Alleinherrschaft oder Stabilität? Auf der | |
> Suche nach denen, die darauf noch keine Antwort haben. | |
Bild: Auch in Ankara gibt es Unentschlossene | |
Cihat Ertan ist Stammgast in dem traditionellen Café, wo die Männer Stunden | |
damit totschlagen, „Okey“ zu spielen und aus tulpenförmigen Gläsern Tee zu | |
trinken. Aber in einem Punkt unterscheidet er sich von vielen Gästen: Er | |
weiß noch nicht, wie er beim Referendum am 16. April abstimmen wird. | |
Dann werden die Wahlberechtigten in der Türkei entscheiden, ob sie ihre | |
unvollkommene parlamentarische Demokratie behalten oder ein Präsidialsystem | |
schaffen wollen, in dem Recep Tayyip Erdoğan mehr Macht über Legislative | |
und Judikative hätte, als irgendein anderer westlicher Präsident. | |
„Ich kann nicht beurteilen, ob das nur für einen Mann gut ist oder für die | |
ganze Türkei“, sagt Ertan. Damit gehört er zu den rund 20 Prozent, die laut | |
Umfragen noch unentschlossen sind. Und da die Umfrageinstitute Befürworter | |
und Gegner in etwa gleichauf sehen, kommt es genau auf diese Gruppe an. | |
Die Bedeutung des Referendums ist kaum zu überschätzen. | |
Oppositionspolitiker versuchen, die Menschen mit dem Argument zu | |
überzeugen, für Nein zu stimmen, dass es sonst vermutlich das letzte Mal | |
wäre, dass sie überhaupt demokratisch abstimmen dürfen. Der Europarat würde | |
diese Warnung unterschreiben. | |
Seine Verfassungsexperten in der „Venedig-Kommission“ kommen zu dem | |
Schluss, dass Erdoğans Pläne „ein gefährlicher Rückschritt“ seien. Damit | |
würde ein „Präsidialsystem eingeführt, in dem alle Checks and Balances | |
fehlen, die es braucht, um ein autoritäres Regime zu verhindern“, | |
konstatiert die Kommission. | |
## David gegen Goliath | |
Im Wahlkampf wirft Erdoğan sein ganzes politisches Gewicht in die | |
Waagschale. Die Plakatwände in Istanbul und Ankara sind beklebt mit dem | |
Evet. Nur sehr selten ist ein Hayır-Plakat zu finden. Ein Gesetz, das die | |
staatlichen Medien dazu verpflichtete, allen Parteien in gleichem Umfang | |
Sendezeit für Wahlwerbung einzuräumen, wurde kassiert. | |
Die NGO Demokrasi İçin Birlik, die das Fernsehen auswertet, berichtete, | |
dass alle TV-Kanäle zusammengenommen in den ersten zehn Märztagen Erdoğan, | |
seiner AKP und der ebenfalls das Ja unterstützenden MHP 486 Stunden | |
Sendezeit einräumten, während die zwei Parteien, die für Nein werben, die | |
kemalistische CHP und die HDP, nur gut 45 Stunden bekamen. | |
Die unentschlossenen Wähler teilen sich in zwei Gruppen. Zum einen sind es | |
die Nationalisten, zum anderen die Kurden. Sie sind unentschlossen, obwohl | |
die Parteien, die sie vertreten, eine klare Haltung haben. Die | |
Nationalisten stehen der AKP und besonders der nationalistischen MHP nahe. | |
Deren Führer Devlet Bahçeli unterstützt das Ja. Die Parteibasis hingegen | |
neigt zum Nein. | |
„Ich werde mit Nein stimmen“, sagt ein MHP-Wähler in Etimesgut, einer | |
Hochburg von MHP und AKP in der Provinz Ankara. Der Mann will seinen Namen | |
nicht nennen, was inzwischen häufig ist. „Ich will nicht, dass ein einziger | |
Mann alle Macht hat“, erklärt er. Im selben Café, in dem auch Ertan sitzt, | |
fährt er fort: „Wenn ein Mann alle Macht hat, wird dann der Terror vorbei | |
sein? Wird die Arbeitslosigkeit sinken? Werden die Renten steigen?“ | |
Widerspricht er damit nicht seinem Parteichef? „Ich sehe Bahçeli nicht als | |
Parteichef. Ich wollte jemand anderen“, entgegnet er. | |
## Beflügelte nationalistische Gefühle | |
Der Elektriker, der neben ihm sitzt, hat kein Problem damit, seinen Namen | |
zu sagen. Er heißt Mustafa Meray, ist auch MHP-Wähler und wird mit Ja | |
stimmen. Seine Begründung: „Was immer mein Parteichef sagt, das mache ich.“ | |
Meray kommt auf Deutschland und die Niederlande zu sprechen, wo türkische | |
Minister daran gehindert wurden, für das Referendum zu werben. | |
„Deutschland und die Niederlande haben die nationalistischen Gefühle in der | |
Türkei beflügelt“, sagt er. Ertan, der zugehört hat, neigt sich jetzt | |
herüber: „Vor zwei Wochen tendierte ich eher zum Nein. Aber was Europa da | |
gemacht hat, bringt mich eher zum Ja.“ | |
In Diyarbakır, der Hauptstadt der 15 Millionen Kurden in der Türkei, | |
funktioniert diese Masche allerdings nicht. „Erdoğan hat die Krise mit | |
Deutschland und den Niederlanden benutzt, um auf Stimmenfang zu gehen, aber | |
die Menschen in Diyarbakır wussten, dass das Berechnung war“, sagt Salih | |
Baydur, ein früherer Kommunalbeamter, in einem Teegarten im Koşuyolu-Park. | |
Hier sitzt auch Kadir, ein Dorfvorsteher aus dem Umland. Er zuckt nur mit | |
den Achseln. „In der Westtürkei fühlen sie vielleicht so, weil sie die | |
Fahne verehren. Das tun wir hier nicht“, sagt er. | |
Alle in Diyarbakır scheinen mit Nein stimmen zu wollen. An einem ganzen Tag | |
voller Gespräche in drei unterschiedlichen Stadtteilen trifft man keinen | |
einzigen Befürworter. Die Kurden kennen womöglich die Details der | |
Verfassungsänderung nicht genau, aber sie wissen, was in Sur passiert ist, | |
der Altstadt Diyarbakırs, und in der Stadt Cizre 180 Kilometer südöstlich. | |
Beide erlebten seit 2015 Monate der Ausgangssperren und Straßenkämpfe | |
zwischen Sicherheitskräften und PKK-Kämpfern. | |
## „Diese Regierung zerstört unser Land“ | |
Bei den Kämpfen in Sur, Cizre und anderen Städten im Südosten wurden etwa | |
2.000 Menschen getötet, darunter 800 Polizisten und Soldaten. Fast 1.800 | |
Häuser wurden zerstört, berichtete im vergangenen Monat das | |
UN-Menschenrechtsbüro. Cizre wurde von Anwohnern als Ort „apokalyptischer | |
Zerstörung ganzer Stadtteile“ beschrieben, hieß es in dem Bericht. | |
„Kurden werden mit Nein stimmen“, bestätigt Aydın, ein Gentleman der alten | |
Schule, tadellos gekleidet in einem schwarzen Anzug, weißem Hemd und einen | |
Rosenkranz in der Hand. Beim Gespräch in einer Fußgängerzone will er seinen | |
Nachnamen nicht nennen, aber er sagt: „Wir erkennen diese Regierung nicht | |
an. Sie zerstört unser Land.“ | |
Einer der wenigen unentschiedenen Wähler in Diyarbakır ist Yakob, ein | |
junger Taxifahrer, der sagt, er sei zu 60 Prozent vom Nein überzeugt, weil | |
er „gegen die Alleinherrschaft eines Mannes“ sei. Und 40 Prozent in ihm | |
würden mit Ja stimmen, weil „die Regierung Brücken und Straßen baut und | |
sich um eine verbesserte Müllentsorgung kümmert.“ | |
Aber neun von zehn Kunden, die Yakob fährt, würden mit Nein stimmen, sagt | |
er, weil „sie fürchten, dass sie bei einem Sieg Erdoğans nicht mehr | |
kurdisch sprechen dürfen“. | |
## Werden sie für das Referendum stimmen? | |
Abseits von Diyarbakır in nordwestlicher Richtung liegt Çermik, eine Stadt | |
voller Betonbauten innerhalb eines wunderschönen Talkessels, umgeben von | |
grünen Weizenfeldern und rosa blühenden Mandelbäumen. 70 Prozent der | |
Bewohner haben bei der letzten Wahl für Erdoğan gestimmt. Werden sie auch | |
für das Referendum stimmen? Ladeninhaber sitzen vor ihren Geschäften in der | |
Hauptstraße, Kartoffelsäcke, Schuhe, Werkzeuge um sie herum. Die Händler | |
rauchen, trinken Tee. | |
Hacı Karataş fährt ein Sammeltaxi, oder „dolmuş“. Er sagt, er werde mit… | |
stimmen, weil Erdoğans neue Verfassung Teil der Erneuerung der Türkei sei, | |
die dem Land schon unter den Ministerpräsidenten Adnan Menderes und Turgut | |
Özal gutgetan habe. „Erdoğan wird kein Diktator werden, denn er wird immer | |
noch gewählt“, sagt Karataş. Die Zerstörungen in Sur und Cizre seien die | |
Schuld der PKK. „Es war ein Fehler, Barrikaden zu errichten.“ | |
Gefragt nach den Zeitungsschließungen und den über 150 verhafteten | |
Journalisten, sagt er, es sei es gut möglich, dass die Regierung Beweise | |
dafür habe, dass diese Journalisten für eine illegale Organisation | |
arbeiten. Schließlich überwache sie Handys und soziale Medien. Minuten | |
später halten Polizisten. Sie wollten nicht, dass Journalisten ohne | |
Akkreditierung nach Çermik kommen und für das Nein werben, sagen sie. | |
Nachdem sie den Presseausweis eingesehen haben, ziehen sie ab. | |
## Politik ist wie Fußball | |
In einem Café weiter unten sitzt der Landarbeiter Haydi und ist zerrissen. | |
75 Prozent von ihm möchten mit Nein stimmen, denn „ich unterstütze keine | |
Diktatur“. 25 Prozent von ihm allerdings wollen Ja ankreuzen. „Ich glaube, | |
dass Erdoğan mit der neuen Verfassung etwas Gutes bewirken wird.“ | |
Haydi war sehr betroffen von den Ereignissen in Sur und Cizre, wo eine | |
Familie ihre zwölfjährige Tochter, die von einer Kugel getroffenen wurde, | |
wegen der Ausgangssperre nicht begraben konnte und im Kühlschrank | |
aufbewahren musste. | |
„Selbst in den größten Kriegen wird es erlaubt, die Verletzten zu bergen, | |
aber in Cizre nicht“, sagt er. Auf die Frage, warum andere in Çermik | |
dennoch mit Ja stimmen würden, sagt Haydi: „In der Türkei ist Politik wie | |
Fußball. Du stehst hinter deiner Partei wie hinter deinem Lieblingsteam.“ | |
Immer wieder sind Wähler zu hören, die nicht verstehen, warum Erdoğan noch | |
mehr Macht braucht. In Etimesgut sagt Gökhan Güngör, ein AKP-Wähler, dass | |
er zwischen Nein und Enthaltung hin- und hergerissen sei: Er glaube nicht, | |
dass seine Stimme irgendetwas ändert. | |
„Ich würde mit Nein stimmen, denn die Regierung hat schon jetzt die Macht | |
zu tun, was sie will. Wenn Erdoğan sagt, dass er etwas machen will, dann | |
passiert das auch. Es muss also einen anderen Grund für seinen Wunsch zur | |
Verfassungsänderung geben“, sagt Güngör. | |
Der frühere Chef der Republikanischen Volkspartei CHP, Deniz Baykal, sagte | |
im Januar, er glaube, Erdoğan werde „von der Angst getrieben, vor Gericht | |
gestellt zu werden“. Baykal bezog sich auf den Korruptionsskandal, der im | |
Dezember 2013 öffentlich wurde und der vier Kabinettsmitglieder zum | |
Rücktritt zwang. „Erdoğan will sicherstellen, dass es unmöglich wird, ihn | |
zur Verantwortung zu ziehen“, sagte Baykal. | |
10 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Jasper Mortimer | |
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