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# taz.de -- Protestgesang im Puttengewand
> UNIKAT Betörend und Verstörend: Die New Yorker Transgender-Ikone und
> Protest-Sängerin Anohni gab ihr weltweit einziges Konzert in diesem Jahr
> in der Elbphilharmonie.
Von Marco Carini
Anohni verstört. Das Konzert der New Yorker Transgender-Ikone und
Protestsängerin ist am Sonntag gerade eine halbe Stunde im Gange, da
verlassen die ersten Besucher irritiert den großen Saal der
Elbphilharmonie. Anklagend und düster sind die Texte der Künstlerin, die
ein dystopisches Bild der Entfremdung des Menschen von sich selbst und
seiner Umwelt zeichnen. Die musikalische Begleitung schwingt zwischen
Kammermusik, schrillen Geigen- und Flöten-Soli und gefälligem Klassik-Pop
hin und her.
Auch wie sich Anohni präsentiert, wirkt nicht gefällig. Ihr fülliger Körper
ist eingehüllt von weißen, wallenden und halb transparenten Gewändern, die
an Gardinenstoff erinnern. Die 45-Jährige, die bis vor gut einem Jahr als
Mann, als Antony Hegarty, musizierte, betont heute ihre weibliche Seite.
Ihr Entdecker Lou Reed hat Antony alias Anohni einmal als „Engel“
bezeichnet, und als solcher präsentiert sie sich hier. Aufgenäht auf das
Puttengewand ist ein Schild aus funkelnden metallenen Ornamenten, die durch
die Bühnenbeleuchtung immer wieder Blinksignale ins Publikum senden. Eine
skurriles Bühnenoutfit, das an ein improvisiertes Faschingskostüm erinnert.
Das alles zusammen ist für manchen Besucher, der vor allem das Erlebnis
Elbphilharmonie käuflich erstanden und Anohni nebenbei mitgebucht hat, zu
viel.
Anohni gilt als uneitel und exzentrisch zugleich. Und die Künstlerin
zaubert an diesem Abend ein sehr exklusives Erlebnis auf die Bühne: In
diesem Jahr hat Anohni bislang keine Konzerte gegeben und auch keine
weiteren geplant. Videomitschnitte, Tonaufnahmen und Fotos sind von Anohnis
Management strikt untersagt worden, im Internet findet das Konzert nicht
statt.
Begleitet wird sie durch die Instrumentalisten des New Yorker Ensembles
„yMusic“ – drei Streicher und drei Bläser –die vor allem die aktuellen…
elektronischer Musik getragenen Songs der Künstlerin für diesen einen
Auftritt völlig neu arrangiert haben. All das gibt diesem Konzert etwas
sehr Intimes und begeistert diejenigen, die zum Teil hohe
Schwarzmarktpreise bezahlt haben, um an diesem Abend dabei zu sein.
Anohni selbst bezeichnet ihre Kompositionen, hinter denen der Glasgower
Produzent Hudson Mohawke und der New Yorker Avangarde-Künstler Oneohtrix
Point Never stehen, als „trojanisches Pferd“: Gefällige Musik, angereichert
durch experimentelle Klangexperimente, tanzbar und immer verspielt
arrangiert, schafft den Zugang zu schwer verdaulichen Textzeilen. Etwa wenn
sie, wie auch an diesem Abend, in die Rolle eines kleinen Kindes schlüpft,
dass sich nichts sehnlicher wünscht, als von einer US-amerikanischen Drohne
zerschmettert zu werden, nachdem seine Eltern bereits dasselbe Schicksal
erlitten.
Die Künstlerin hat das Genre des Protestsongs runderneuert. Mit
ausgefeilten Video-Installationen und opulenten musikalischen Arrangements,
oft zusammen mit großen Sinfonieorchestern wie dem London Symphony
Orchestra oder dem Chamber Orchestra of Sydney, bedient sie sich eines
künstlerischen Repertoires, das weit oberhalb der
Liedermacher-Selbstbegleitung mit Klampfe oder kleiner Band rangiert.
In ihre Texten arbeitet sich Anohni an der kapitalistischen Lebensrealität
ab. Ob Klimawandel, die amerikanischen Drohnen-Einsätze oder überhaupt die
imperialistisch-aggressive Außenpolitik ihres Heimatlandes – die Lyrics
sind stets der Aufschrei einer Künstlerin, die sich nicht mit der Realität
und Entwicklung abfinden kann, die sie beschreibt oder voraussagt.
Vor allem aber appelliert Anohni an die individuelle Verantwortung des
Einzelnen, sei es der US-amerikanischen Steuerzahler oder der Hamburger
Konzertbesucher. Wer Anohni zuhört, darf sich angegriffen fühlen in seinem
Konsumverhalten und jeder inneren Versöhnung mit den herrschenden
Verhältnissen. Ihre Fangemeinde liebt gerade diese Radikalität.
Dabei kann man auch die Elbphilharmonie als trojanisches Pferd begreifen:
Der überteuerte Leuchtturm-Bau, Wahrzeichen finanzieller Verschwendung und
glamouröser Hochkultur – das ist die Fassade. Konzeptioniert aber ist das
Haus als Konzertsaal für alle, mit bezahlbaren Eintrittspreisen. Der
Elbphilharmonie-Boom beschert Künstlern abseits des populären Mainstream,
ob Klassik oder Avangarde, die sonst vielleicht um Aufmerksamkeit kämpfen
müssen, ausverkaufte Säle und eröffnet die Musik breiten
Bevölkerungsgruppen.
Die Dissonanz zwischen Form und Inhalt, Hoch- und Popkultur passt zur
Avangarde-Künstlerin Anohni, die selbst längst Teil des etablierten
Kulturbetriebes ist – oder auch nicht. Als man ihre Musik für einen Film
vergangenes Jahr für einen Oscar nominierte, sollte sie als einzige
Nominierte bei der Preisverleihung keine Performance beitragen, weil sie
für ein breites Publikum nicht zu vermarkten sei.
Dass das nicht nur an ihren radikalen Texten liegt, lässt sich auch in der
Elbphilharmonie beobachten: Während Anohni singt, schunkelt sie ihren
fülligen Körper unbeholfen hin und her. Jede Bewegungssequenz wirkt
merkwürdig ungelenk, ohne Fluss, gepresst. Es scheint, als weigere sie
sich, ihren Liedern noch einen tänzerischen Ausdruck zu verleihen:
Musikalisches Arrangement und Text müssen für sich wirken, vertragen keine
Ablenkung. Anohni steht, singt im Sitzen, kniet oder dreht, während sie die
Arme voller Pathos ausbreitet, dem Publikum den Rücken zu. Das muss
reichen. Im Kontrast zu dieser Körperstarre stehen die feminin-grazilen
Gesten ihrer Hände, die immer in Bewegung sind.
In der Elbphilharmonie kehrt Ahnoni zu ihren musikalischen Wurzeln zurück,
in die Zeit der kammermusikalischen Pop-Epen, als sie mit Antony and the
Johnsons noch im männlichen Gewand auftrat. Zwar ist diese männliche
Bühnenfigur längst zu Grabe getragen, dennoch hat in der Elbphilharmonie
der moderne elektronische Dancepop Pause, der Anohnis beide Alben
dominiert, die sie unter ihrem neuen Namen herausgegeben hat. Getragen wird
das Konzert von Anohnis unverwechselbarer Stimme: kraftvoll und
zitternd-fragil zugleich, androgyn, männlich tief und sich dann wieder zu
hohen Bögen aufschwingend.
Am Ende des anderthalbstündigen Abends bedankt sich Anohnis merkwürdig
schüchtern für die lang anhaltenden Standing Ovations. Auf der Rolltreppe,
die aus dem Konzertsaal hinaus ins Freie führt, mischen sich begeisterte
Töne und Grantelei. Etliche Besucher meckern über das zur (Bühnen)-Show
getragene „Gutmenschentum“ der Künstlerin, über diesen ganzen moralischen
Impetus. Aber so ist das mit trojanischen Pferden: Sie sehen harmlos aus
und nutzen diese Tarnung, um in einen sicheren, geschützten Bereich
eingelassen zu werden. Für Anohni ist dieser Bereich das Wertesystem und
die Lebenswirklichkeit all der Menschen, die sie an Abenden wie diesem mit
ihrer Musik erreicht.
5 Apr 2017
## AUTOREN
Marco Carini
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