# taz.de -- „Noch zehn Sekunden leben können“ | |
> INVESTMENT Jan Philipp Reemtsma erbte einst Millionen – und tat | |
> Vernünftiges mit ihnen. Zum Beispiel gründete er das Hamburger Institut | |
> für Sozialforschung. Ein Gespräch über 60 gelebte Jahre, Angst, Gewalt | |
> und die Hoffnung | |
Gespräch JAN FEDDERSEN | |
Wir treffen uns im Institut für Sozialforschung am Hamburger Mittelweg 36. | |
Jan Philipp Reemtsma ist aufgeräumtester Laune, er trägt einen Anzug aus | |
bester hanseatischer Schneiderei. Eben hat der Fotograf ihn abgelichtet – | |
und Reemtsma hofft, dass die Bilder ihn nicht unpässlich zeigen. | |
sonntaz: Herr Reemtsma, Sie werden nun schon 60 Jahre alt. | |
Jan Philipp Reemtsma: Ich erinnere mich an einen Nachruf auf John Lennon, | |
als er 30 wurde – eine Fotomontage mit ihm zwischen zwei Kerzen. | |
Okay, so wurde der spätjugendliche Geburtstag von Lennon gefeiert. Aber 60 | |
zu werden? | |
Klar, man stolpert ständig über diese Daten – also, was ändert sich mit 60? | |
Man gibt Interviews, wie jetzt für die taz, also fragen Sie nicht mich, | |
fragen Sie sich selbst, was Sie daran interessiert | |
Was sehen Sie, wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen? | |
Eines, das ich so nicht vorhergesehen hätte. Wobei ich mir nie irgendwie | |
vorgestellt habe, wie mein Leben sein würde. Das ist mir beim Zurückblicken | |
aufgefallen, dass ich mich nie gefragt habe: Was soll in den nächsten 20, | |
30 Jahren sein? In den nächsten zehn Jahren, das ist etwas anderes. | |
Aber das haben Sie sich doch auch mit 25 nicht gefragt? | |
Auch nicht, nein. In dem Alter beendet man sein Studium und fragt sich, was | |
fange ich damit an. Aber wenn man 40 ist, dann natürlich schon. Wo steht | |
man dann? Wo will man seine Kräfte einsetzen? Was habe ich noch nie | |
gemacht, was will ich unbedingt noch erledigen? Nicht, weil die Uhr | |
abläuft, sondern weil noch so viel Zeit ist. | |
Aber heute – haben Sie da nicht das Gefühl, dass Sie nicht mehr so viel | |
Zeit haben, sich konzentrieren müssen? | |
Die Begrenztheit des Vorrats ist augenfälliger als mit 50. Ich frage aber | |
nicht: Muss ich irgendetwas in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren | |
grundsätzlich anders machen? Ich bin in meinem Leben eigentlich viel zu | |
wenig gereist. Könnte ich sagen. Ich bin sehr wenig explorativ durch die | |
Welt gegangen. | |
Und weshalb nicht? | |
Ich bin so nicht. Es reizt mich zu wenig. Genau darauf laufen solche Fragen | |
ja hinaus: Würden Sie noch das und das machen? Ein Buchprojekt, das ein | |
paar Jahre in Anspruch nimmt, würde mich mehr reizen als eine Weltreise, | |
obwohl es viele Orte gibt, die ich nicht kenne und gerne sehen würde. | |
Schaut man sich Ihren Lebenslauf bislang an, ließe sich sagen: Sie haben | |
Dinge gemacht, die Ihrem Leben nicht von vornherein eingeschrieben waren. | |
Blicken Sie mit Wohlgefallen auf diese Entwicklung? | |
Mir hat mal jemand gesagt: Sie haben aber ein interessantes Leben gehabt! | |
Da wäre ich nicht drauf gekommen. Von außen mag das so aussehen. | |
Wie würden Sie es denn beschreiben? | |
Ich habe ein paar Dinge angefangen, die ich machen wollte und interessant | |
fand. Und das hat immer etwas nach sich gezogen. Nur sehr junge Menschen | |
denken, dass das von ihnen selbst Angefangene auch so eintritt, wie sie es | |
fantasiert haben. | |
Sie haben den Autor Christoph Martin Wieland durch finanzielle Förderung | |
aus dem Vergessen gezogen, jüngst den Beneke-Tagebüchern zur Edition | |
verholfen … | |
Ich habe einen zu wenig in seinen interessanten Facetten bekannten Autor | |
bekannter gemacht – auch durch Geld, durch Finanzierung eines Nachdrucks | |
seiner Werke, aber vor allem durch viel eigene Arbeit. | |
Und Arno Schmidt? Stimmt die Anekdote eigentlich, dass Sie eines Tages in | |
der Lüneburger Heide an seinem Zaun ruckelten und fragten, ob er durch Sie | |
gefördert werden möchte? | |
Nein. | |
Schade. | |
Eine schöne Anekdote für Journalisten, ja. Aber Sie haben mich gefragt, ob | |
sie stimmt. Nein. Sie hat für manche den Vorteil, ihre Sicht der Dinge zu | |
bestätigen: Ein nicht mehr ganz Jugendlicher, der nicht ganz richtig tickt, | |
trifft einen sonderbaren Autor. Freundlicher: Der eine Eigenbrötler trifft | |
den anderen. Die Beschreibung stimmt nur nicht. | |
Aber wenn Sie sich diesen jungen Mann Anfang 20 anschauen, der sich mit | |
Arno Schmidt beschäftigt, der da nicht ganz richtig tickt – sehen Sie sich | |
aus der Distanz heute auch ein bisschen so? | |
Nein. Konnte ich eine bessere Idee haben? Was sich daraus ergeben hat, war | |
aber nicht vorauszusehen. Es war ja nicht abzusehen, dass Arno Schmidt dann | |
bald sterben würde. Dann lag nahe, dass ich mit der Witwe darüber sprechen | |
würde, was aus dem Nachlass werden solle. Und dass ich jemand war, der über | |
die Mittel verfügte – ich spreche über Geld, aber nicht nur –, daraus etw… | |
machen zu können. Das, wenn Sie’s so wollen, war dann ab einem bestimmten | |
Zeitpunkt absehbar. Zur Anekdote: Ich habe mit circa 24 Jahren beschlossen, | |
Schmidt aufzusuchen – wobei ich nur wusste, in welchem Ort er wohnte. | |
Vielleicht hätte ich ja Glück und träfe ihn – spreche mit ihm über seine | |
Lebenssituation –, biete ihm an, ihn finanziell zu unterstützen. | |
So gibt es im Leben Konstellationen, nicht wahr? | |
Ja, manchmal ergibt sich etwas. Zuweilen etwas, das ich dann als latent | |
verpflichtend empfunden habe. | |
Wie kam es zur Beachtung von Arno Schmidts Lebenssituation? | |
Er hat mehrfach darüber geschrieben, wie er seine eigentlichen Werke durch | |
Brotarbeiten finanzieren müsse. Die Schnittmenge von Leuten, die sich schon | |
auf dieses Werk eingelassen hatten und mit gutem Recht sagen, dass er zu | |
den großen Autoren des 20. Jahrhunderts gehöre, und, ich würde sagen, der | |
bedeutendste nach 1945, und denen, die über Mittel verfügen, so einen | |
Schritt zu tun, ist doch sehr gering. Darum hatte ich das Gefühl, daraus | |
irgendeine Konsequenz ziehen zu sollen. | |
Solche eine Schnittmenge gab es bei anderer Gelegenheit doch auch – etwa | |
bei den Unruhen rund um die Hamburger Hafenstraße. | |
Ja, wer konnte schon gleichzeitig mit Leuten aus der Hafenstraße reden und | |
mit dem Bürgermeister – könnte man sagen. Aber ich war doch kein Diplomat. | |
Ich war jemand, der sich auf den Fluren der Hafenstraßenhäuser und denen | |
des Rathauses gleich wenig wohlgefühlt hat. Das war vielleicht eine gute | |
Voraussetzung und ich konnte mit beiden Seiten reden, Kontakte herstellen. | |
Man kann in den großbürgerlichen Elbvororten wohnen und hat aber dennoch zu | |
den Schmuddelvierteln auf St. Pauli einen Draht? | |
Und wenn der Kontrast, den Sie zeichnen möchten, mit mir wenig zu tun hat? | |
Aber Sie haben doch die richtige Fahrkarte für den Spirit der Elbvororte. | |
Habe ich den Spirit der Elbvororte? Was ist das denn? Wie sehr bedingt der | |
Ort, an dem ich aufgewachsen bin, eine Milieuzugehörigkeit? Kaum. | |
Sie haben immer gewusst, dass Sie über viel Geld verfügen. Sie wollten | |
damit stets Gutes? | |
Vernünftiges. „Gut“ – im Sinne von „vernünftig“, ja. | |
Jugendliche Menschen sagen eher: Ich will das, und ich mach das, und ich | |
zieh das jetzt durch. Menschen in den Dreißigern lernen, dass der eigene | |
Einfluss begrenzt ist. Man muss Kompromisse machen, man kann nicht alles, | |
und man selber ist eher irgendwie schmal in den Durchsetzungsfähigkeiten. | |
Ich stelle mir vor, dass Sie immer wussten: Das Vernünftige kann ich zu | |
realisieren mithelfen. | |
Ich glaube, auch ehe ich ein Mittzwanziger war, waren meine diesbezüglichen | |
Flausen gering ausgeprägt. Es ist viel Geld, ja. Aber dass man damit den | |
Himmel einreißen könne, das Gefühl hatte ich nie. Ich glaube, ich wusste, | |
dass das, was man mit Geld machen kann – auch wenn es sehr viel ist –, | |
begrenzt ist. | |
War Ihre eigentliche Leistung nicht die Etablierung der | |
Wehrmachtsausstellung? | |
Das hat mir neulich jemand gesagt. Wenn ich sonst nichts erreicht hätte im | |
Leben? Sicher, ohne mich hätte es sie nicht gegeben, aber ohne die Arbeit | |
vieler anderer eben auch nicht. Wenn ich aber nur über mich reden soll und | |
mich von außen ansehe, könnte ich wohl sagen, dass wir damit dieses Land | |
ein wenig verändert haben. | |
Die Wehrmachtsausstellung hat bewirkt, dass es inzwischen in der | |
Bundesrepublik einen neuen Konsens zum Nationalsozialismus gibt. | |
Ja, und es brauchte zwei Ausstellungen – die erste, die agitatorischer, | |
aber auch in mancher Hinsicht fehlerbehaftet war. Und die zweite, die sie | |
ausräumte und einen anderen argumentativen Duktus hatte – aber: dasselbe | |
Thema, dieselbe These. Und nun gibt es diesen öffentlichen Konsens, den es | |
1995 noch nicht gab, nun kann die Welt in einer Rezension eines Buches vom | |
Militärgeschichtlichen Forschungsamt schreiben: Wie seit Jahren | |
unumstritten, hatte die Wehrmacht als Organisation aktiv teil an den | |
damaligen NS-Verbrechen. So hatte ich das über viele Jahre wörtlich immer | |
wieder in Interviews gesagt – und mir Ärger eingehandelt. Aber wenn Sie | |
erreicht haben, ohne Quellenangabe zitiert zu werden, dann haben Sie eine | |
Meinung wirklich durchgesetzt. | |
Über den Boxer Muhammad Ali schrieben Sie in einem Buch, er habe die Welt | |
ein bisschen besser gemacht. Sie auch? | |
Sehen Sie mal, wenn ich jetzt sage, ja, dann machen Sie daraus eine kleine | |
Zwischenzeile, und daraus wird dann die Pointe des Interviews. So hat mich | |
vor Jahren mal einer gefragt, als ich gerade das Institut gründete: Was | |
willst du eigentlich, die Welt verbessern? Was sagt man auf so was? Also, | |
schlechter machen will ich sie nicht, aber ein sozialwissenschaftliches | |
Institut zu gründen, um die Welt zu verbessern? Ach, du lieber Gott. | |
Sie haben auch die Gewaltforschung in den Mittelpunkt öffentlicher | |
Wahrnehmung gerückt. Dazu zählt auch Ihr Buch „Vertrauen und Gewalt“. | |
Vertrauen ist dort Ihr entscheidendes Wort. Kann man in die Welt überhaupt | |
Vertrauen haben? | |
Vertrauen und Misstrauen, je nachdem. Zum Leben in einer Gesellschaft | |
gehört eine Idee von Normalität, die man beim Handeln immer bis zu einem | |
gewissen Grade unterstellt. Vertrauen ist in diesem Sinne der Grund | |
sozialen Zusammenhalts. Mein Vertrauensbegriff ist ein sehr | |
minimalistischer. Sie können nicht stets alles für möglich halten, sonst | |
werden Sie verrückt. Zum Handeln gehört die Voraussetzung von Normalität, | |
von Wahrscheinlichkeiten. Das heißt nicht, dass Sie die Welt, in der wir | |
leben, angenehm oder für moralisch gerechtfertigt halten müssen, und so | |
weiter. Aber Sie können – Sie müssen – sich in ihr bewegen. Die große | |
Bedeutung des Werks von Kafka besteht unter anderem darin, zu beschreiben, | |
was mit jemandem passiert, der sich plötzlich in einer Welt wiederfindet, | |
wo er diese Normalitätsunterstellungen nicht machen kann. Er versucht | |
stets, ein neues Bild der Welt, mit der er konfrontiert ist, zu entwerfen, | |
eine neue Art von Normalität zu unterstellen, aber er scheitert. | |
Aber Angst wird häufig als zeitgenössisches Grundgefühl beschrieben. | |
Die Frage ist immer: wovor. Befürchtungen und Ängste mögen diffus sein, | |
ganz ungerichtet sind sie doch nicht, vor allem: Sie können nicht mit einer | |
vollständigen Unsicherheit leben. Wir haben ein paar historische Bespiele, | |
was passieren kann, wenn dieses Vertrauen grundsätzlich erschüttert wird. | |
Bitte! | |
Anthropologen beschreiben, dass es in der Karibik einen Kulturschock | |
gegeben hat, als die Spanier dort hinkamen. Die Einwohner dort hörten auf | |
sich fortzupflanzen. Und wenn sie es doch taten, brachten sie die Kinder | |
um. Die spanischen Kolonisatoren sagten dann, die Ureinwohner seien zu faul | |
zu arbeiten, dass sie sich stattdessen lieber töten würden. Aber sie | |
wussten überhaupt nicht, was vorging. Das war eine solche Grundverstörung. | |
Die konnten Sie auch bei den Massenbombardements von Dresden oder Hamburg | |
beobachten. Es gab Menschen, die wussten, im Fluss, da kann man überleben – | |
aber es gab welche, die so verstört waren, dass sie zu solchen Gedanken | |
nicht mehr in der Lage waren, sie wussten nicht mehr, wie sie sich retten | |
konnten, sie wussten in gewissem Sinne gar nichts mehr. | |
1996 wurden sie entführt und in einem Keller gefangen gehalten, es ging | |
darum, Lösegeld zu erpressen. Ist Gewalt seitdem für Sie ein besonders | |
intensives Thema geworden? | |
Nein, das Thema begleitet das Institut von der Gründungsphase an. Zu den | |
ersten Themen gehörte, genauer zu untersuchen, was in Ländern unter | |
Regimes, die zum politischen Instrument der Folter greifen, eigentlich | |
geschieht. | |
Wie weit weg ist Ihre Entführung? | |
Das können Sie bei solchen Ereignissen – oder sagen wir: Erlebnissen, | |
Erfahrungen – nie so eindeutig beantworten. Das ist einerseits ganz weit | |
weg. Fast 16 Jahre eben. Aber wenn wir jetzt darüber sprechen würden, | |
könnte ich das in fast jedem Detail genau vergegenwärtigen und beschreiben, | |
ohne mich lange besinnen zu müssen. Das ist bei anderen Erinnerungen | |
anders. | |
Nimmt die Intensität der Erinnerung ab? | |
Nein, sie bleibt konstant. | |
Alltäglich – oder nimmt die Häufigkeit der traumatischen Flashes ab? | |
Die hatte ich nie. Plötzliche Vergegenwärtigungen schon. In der Zeit nach | |
der Entführung hatte ich Albträume. Die habe ich nicht mehr. Jedenfalls | |
nicht so, dass ich daraus aufwache – was weiß man schon über Träume, an die | |
man sich beim Erwachen nicht erinnert. Aber sehen Sie, ich war jetzt in der | |
Inszenierung im Hamburger Thalia-Theater, „Jeder stirbt für sich allein“. | |
Da gibt es eine Szene, wo jemand in einem Wald erschossen werden soll, und | |
diesen interessanten Moment: Jemand weiß, dass sein Leben jetzt zu Ende | |
ist, er wird gleich umgebracht werden, und er möchte es durch ein Minimum | |
an Reden noch zehn Sekunden verlängern. Er wendet sich an seinen Mörder und | |
sagt: „Halt, halt, bevor Sie jetzt abdrücken …“ Irgendwelchen Unsinn | |
erzählt er ihm. Um noch zehn Sekunden leben zu können. | |
Hatten Sie damals solche Fantasien? | |
Ich wusste ja nicht, dass ich überleben würde. Also habe ich mir mein Ende | |
vorgestellt. Das Szenario ist vielleicht: ein Wald und dort werde ich | |
erschossen. Wie wird das sein? Ich wusste, ich würde mich benehmen wie wohl | |
jeder andere auch. Ich werde versuchen, noch zehn Sekunden, zwanzig | |
Sekunden, eine halbe Minute herauszuschinden. Völlig absurd, aber das | |
werden die meisten so tun. Das wurde dort also auf der Bühne gespielt und | |
plötzlich war alles da, und ich dachte: ja. Genau so wär’s gewesen. | |
Cool fand ich, dass Sie einmal sagten, Sie werden Ihren Entführer, Thomas | |
Drach, bis ans Ende seiner Tage verfolgen, das Lösegeld zurückholen, denn | |
er solle nicht belohnt werden für die Tat. | |
„Cool“ –? Nun, so ein Zeug wie „bis ans Ende meiner Tage“ habe ich ge… | |
nicht gesagt. Was stimmt, ist, dass mir der Gedanke äußerst unsympathisch | |
ist, dass für manche das Leben dieses Menschen trotz der verbüßten | |
Gefängnisstrafe vielleicht als ein Erfolg angesehen wird. Solche Verbrechen | |
sollten als Misserfolge enden und als Misserfolge wahrgenommen werden. Wenn | |
ich etwas dazu tun kann, wäre mir das schon recht. | |
Muss man nicht, was die Intensität der Verfolgung eines Peinigers angeht, | |
auch mal loslassen können? | |
Ich verfolge doch gar nicht – das tut die Polizei. Der Platz, den Gedanken | |
wie der, was ich dazu tun könnte, dass das gezahlte Lösegeld noch einmal | |
irgendwo auftaucht, in meinem Leben einnehmen, ist gering. Man darf sein | |
Leben nicht durch ein Verbrechen, dessen Opfer man geworden ist, definieren | |
lassen. | |
Glauben Sie, dass Sie Ihren Enkeln irgendwann dieses gewalttätige 20. | |
Jahrhundert erklären können? | |
Das ist eine interessante Frage. Die sind so jung, dass ich noch gar nicht | |
in die Verlegenheit komme, solche Gespräche zu führen. Aber zu erklären | |
gibt es da nichts, zu beschreiben, was geschehen ist, das ja. Ich finde | |
aber nicht so sehr den historischen Abstand, der sich in Jahreszahlen | |
messen lässt, interessant, als den, der bestimmte eingetretene historische | |
Normalitäten kennzeichnet. Ich bin jemand, der in die Situation des Kalten | |
Krieges hineingeboren ist und das Existieren von zwei Machtblöcken als | |
etwas Unverrückbares wahrgenommen hat. Für meinen Sohn ist die | |
Nichtexistenz der DDR schon als Zehnjähriger eine politische | |
Selbstverständlichkeit gewesen. Für meine Großeltern war Frankreich der | |
„Erbfeind“, ich habe solche Formulierungen über meine Eltern noch | |
verstanden, denn das Thema „Versöhnung mit Frankreich“ hat ja die 50er | |
geprägt. Für die Generation meines Sohnes ist das so weit weg, dass es kaum | |
noch Wirklichkeitsähnlichkeit hat. Also Friedensnobelpreis für die EU – | |
warum nicht? So ein Unterschied ist doch einer ums Ganze. Was immer sonst | |
mit Europa sein mag. Aber dieses: ja. | |
Man liest oft: „Immer mehr Menschen werden arm“ oder „Immer mehr Menschen | |
hungern“. Trifft es zu, dass die Welt eine immer schlechtere wird? | |
Nein. Um auf etwas hinzuweisen, das schlecht oder mehr als das ist, muss | |
man nicht behaupten, dass es natürlich immer schlechter werde. Sie können | |
die Tatsache, dass es in einem Land wie Deutschland so viele | |
Armutskarrieren gibt, für einen moralischen Skandal halten, ohne die | |
Rhetorik des „immer mehr“ zu benutzen. Wenn es in Indien keine Hungersnöte | |
mehr gibt, heißt das doch nicht, dass es keine furchtbare Armut mehr gibt. | |
Haben Sie konkretere Pläne für zwei, drei, zehn Jahre? | |
Und über die rede ich dann in der Zeitung? Nun, das Hamburger Institut für | |
Sozialforschung hat eine erfolgreiche Geschichte gehabt, und die sollte | |
sich fortsetzen, auch wenn ich irgendwann keine aktive Rolle in ihm mehr | |
spiele. Ich habe mir Gedanken zu machen, wie das aussehen wird. | |
Also, Herr Reemtsma, irgendwann werden Sie in den Ruhestand gehen? | |
Ja, in dieser Hinsicht schon. Aber sonst? Jemand, der lesen und schreiben | |
kann, geht nie in den Ruhestand. Was soll das denn auch sein? | |
■ Jan Feddersen, 55, ist taz-Redakteur. Er hat kein Vermögen geerbt, ist | |
aber gebürtiger Hamburger | |
24 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
JAN FEDDERSEN | |
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