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# taz.de -- Happy Valentine: Ein Mann wie ein Mann
> Frauen lieben Recep Tayyip Erdoğan. Wenn er auftritt, fächern sie sich
> Luft zu. Als politische Popfigur steht er ganz in der Tradition des
> Landes.
Bild: Der Präsident, den sie liebten
Wenn der „Kapitän“ sich ankündigt, sind sie für Wochen im Voraus aufgere…
Am Tag der „großen Zusammenkunft“, wie der Meister die Großevents mit
seiner Anhängerschaft zu nennen pflegt, werfen sie sich in Schale. Manche
suchen die schönsten Stücke aus ihrem Kleiderschrank. Wer in Farbeintracht
erscheinen will, bevorzugt weiß und rot.
Zu Tausenden stehen sie stundenlang Schlange am Einlass und legen sich bei
Problemen mit dem Sicherheitspersonal an. Keine Security, keine Gästeliste
dieser Welt kann sie davon abhalten, ihren Helden zu treffen. Sie klatschen
sich in die Hände und singen „Ree-ceep Taa-yyip Erdoğan“.
Frauen lieben ihn, Männer auch. Manche sagen, wie einen Sohn, andere wie
einen Bruder. Wer aber selbst schon einmal bei einer dieser Veranstaltungen
dabei war, wird bestätigen: Die Teyze nebenan smelled like teen spirit. Der
Anblick von Mittfünfziger-Muttis mit brav gebundenen Kopftüchern und
knöchellangen Mänteln, aufgeregt auf ihren Plätzen herumrutschend – währe…
sie dem Bühnenauftritt ihres Lieblings entgegenfiebern – wirkt irritierend.
Erst recht, wenn die frommen Frauen sich melodramatisch
pheromongeschwängerte Luft zufächeln und das unbehagliche Gefühl bei der
Beobachterin wecken, unbeabsichtigt einer kollektiven Klimax beizuwohnen.
## Die AKP kann auch Orgien
Touché, die AKP kann auch Orgien. Als ob Muslim*innen keine Libido hätten.
Der Islam ist wahrscheinlich die einzige monotheistische Religion, die der
Frau bei schlechtem Sex die Scheidung gestattet (Bakara Sure, Vers 228).
Erotik ist in der türkischen Gesellschaft genauso viel oder wenig
tabuisiert, wie in anderen Gesellschaften auch. Unter legitimierten
Umständen, wie zum Beispiel in der Ehe, ist sexuelle Begierde sogar
erwünscht, und das nicht nur zu Fortpflanzungszwecken.
Der Präsident fällt unter diese Legitimation. Gewiss, in Deutschland hat
Politik nichts mit Sex zu tun. Aus historischen Gründen wird hier größerer
Wert auf Kompetenzen als auf Charisma gelegt. Im Rest der Welt ist das ein
wenig anders.
In der Türkei ist der Personenkult um den politischen Führer des Landes
staatlich reguliert. Lange Jahre saß unangefochten der Republiksgründer
Mustafa Kemal Atatürk auf diesem Thron. Mit Erdoğan hat nun die
konservativ-religiöse Bevölkerung ein politisches Idol, bei dem auch sie
ihre Begierde zur Schau stellen dürfen.
## Unerschütterlich wie eine Toupierfrisur
So schenkt man den blondierten Tanten der oppositionellen CHP einen
Schmunzler, wenn sie vom Gründer der Republik schwärmen. Atatürk sei für
sie der attraktivste aller Türken und tanzte, ging und sprach wie ein
griechischer Gott. Ihr Glaube an den Kemalismus ist dabei so
unerschütterlich wie ihre typische Toupierfrisur. Die AKP-Tanten aus dem
mittelanatolischen Kayseri hingegen strafen wir für die
Erdoğan-Begeisterung mit Verachtung.
Vielleicht, weil uns die demokratischen Errungenschaften Atatürks –
immerhin verhalf er der türkischen Frau 1934 zum Wahlrecht – und seine
westliche Orientierung besser gefallen als die „One-Minute“–Show des
anatolischen Machos, der in Haudegen-Manier durch die Weltpolitik poltert
und Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit seiner Bürger*innen massiv
einschränkt.
Trotz fundamentaler Unterschiede haben sie doch einiges gemeinsam. Beide
sind sie „Väter der Nation“ – mit dem erklärten Ziel, die Türkei zu ei…
starken, unabhängigen Land zu machen. Beide verhandelten erst mit den
Kurden, um sie später zu Separatisten und Terroristen zu erklären.
Ihre wichtigste gemeinsame Eigenschaft ist wohl ihre Wirkung auf Frauen. So
erreicht Erdoğans Sexappeal nicht nur die anatolischen Hausfrauen mittleren
Alters, er verzückt auch junge Frauen und sogar jene, die nicht dem
konservativen Frauenbild der AKP entsprechen.
## Kopftuchtragende Schwestern als politisches Kalkül
Der Erfolg der AKP lastet zu einem großen Teil auf weiblichen Schultern. So
stammten seit 2002, dem ersten Wahlsiegjahr der AKP, mehr als die Hälfte
der Wahlstimmen von Frauen. Warum ist die AKP für viele Türkinnen so
attraktiv – trotz etlichen frauenfeindlichen Sprüchen führender Politiker?
Vielleicht gibt es mehrere Erklärungen. Den Kopftuchträgerinnen versprach
die religiös-konservative Partei Zugang zu staatlichen Stellen. Mehr noch:
Es war eines der größten Wahlversprechen der AKP, als sie 2002 an die Macht
kam. Die Aufhebung des Kopftuchverbots fand jedoch viel später, erst ab
2007 statt.
2013 kamen weibliche AKP-Abgeordnete nur mit einem Trick ins Parlament.
Nach der Wiederkehr aus Mekka nahmen die vier Frauen ihr Kopftuch nicht
mehr ab. Und umgingen so still und heimlich die Kleiderordnung des
Parlaments.
„Stille“ Proteste sind ein Kennzeichen für die Frauen der AKP-Regierung.
Die „kopftuchtragenden Schwestern“ sind als politisches Kalkül für die
AKP-Männer nur dann interessant, wenn es darum geht, die Gegenseite zu
diskreditieren. Doch Frauen in der Türkei waren – kopftuchtragend oder
nicht – bisher zumindest, nur politisches Beiwerk.
## Treffen bei Tee-und Börekrunden
Eine mögliche weitere Erklärung für die Erdoğan-Liebe der Frauen wäre:
Religiöse, vor allem in Kleinstädten lebende Frauen mit geringen oder
wenigem Einkommen sind sichtbarer.
Erdoğans Kampagnenchef Erol Olçok erklärte vor dem Wahlen zum
Staatspräsidenten 2014 auf CNN Türk, dass die AKP während der Wahlkampagnen
mit 26.000 Freiwilligen arbeite. So dienen die Frauenbüros der AKP den
Teilnehmerinnen als gelungene Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit zu
bewegen. Über 4.5 Millionen Teilnehmerinnen seien derzeit im Netzwerk
dieser Frauenbüros organisiert. In Deutschland fungiert als Pendant dazu
die Frauenunion der UETD. Treffen bei Tee-und Börekrunden sollten nicht
darüber hinwegtäuschen, dass hier ebenfalls Wählerstimmen für die AKP
generiert werden sollen.
Der langjährige Kampagnenchef Olçok hatte am exorbitanten Erfolg der AKP
maßgeblichen Einfluss. Die Härte Erdoğans sei gewollt und forciert, so der
PR-Chef. Tragischerweise verstarben Olçok und sein ältester Sohn in der
Nacht des 15. Juli 2016, erschossen von putschenden Soldaten. Viele
Beobachter in der Türkei glauben nun, dass das Referendum im April nach dem
Tode Olçoks auf tönernen Füßen stehe.
## Ambivalentes Frauenbild der AKP
US-amerikanische Filmsternchen wie Lindsay Lohan sollen es nun richten.
Besonders die Berufung von Lohan als neues politisches Testimonial ist
brisant: Löschte sie doch alle freizügigen Bilder auf ihrem
Instagram-Account, bevor sie vor wenigen Tagen auf den Staatspräsidenten
und seine Ehefrau Emine traf.
Das ambivalente Frauenbild der AKP hält die Frauen nicht davon ab, eine
Partei zu unterstützen, die sie zu Menschen zweiter Klasse degradiert und
aus dem öffentlichen Leben entfernen will. Die Liste der abstrusen
Äußerungen von AKP-Funktionären ist lang: Frauen sollen in der
Öffentlichkeit nicht lachen, Schwangere ihren Bauch nicht zur Schau
stellen, eine Karriere nur anstreben, wenn sie Haushalt und Kinder nicht
vernachlässigen, bei Vergewaltigung nicht abtreiben.
Traurigerweise sind das keine AKP-spezifischen Ansichten, sondern in weiten
Teilen Konsens in der türkischen Gesellschaft. Die Familie bildet den Kern
des sozialen Lebens, Oberhaupt ist Vater, wenn nicht vorhanden der Bruder
oder der nächste männliche Verwandte. Die Redensart „ein Vater schlägt und
liebt“ erklärt nicht nur das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, sondern
ist Ausdruck der patriarchalen Familienhierarchie. Es heißt ja auch die
Mutter sei das Land, der Vater aber der Staat.
## „Ein Vater schlägt und liebt“
Erdoğan erfüllt dieses Bild. Unter dem Vorwand, das Beste zu wollen,
schränkt er individuelle Freiheiten wie Alkohol-und Tabakkonsum ein und
mischt im Privatleben seines Volkes mit (drei Kinder!). Wer sich nicht
fügt, wird hart bestraft, sogar verprügelt, natürlich nur zum Wohl der
Allgemeinheit. Wie in gewalttätigen Familien üblich, führen Täter (Vater,
Ehemann) und Opfer (Kinder, Ehefrauen) komplizierte Beziehungen, aus der
sich die Opfer nicht ohne weiteres emanzipieren können, da der Patriarch
sie nicht nur misshandelt, sondern auch umsorgt.
Doch hin und wieder erleidet das Erfolgsimage der AKP Rückschläge. Etwa
dann, wenn sie auch aus weiblicher Sicht zu weit gehen – wie zum Beispiel
mit dem Gesetzesentwurf im letzten Jahr. Täter sollten bei Vergewaltigungen
Straffreiheit erhalten, wenn ihre minderjährigen Opfer sie heiraten. Als
die Frauenorganisation KADEM Kritik anmeldet, regnen kleinlaut
Rechtfertigungen aus der Regierung. Wohl auch, weil im Vorstand der
Organisation die Präsidententochter Sümeyye Erdoğan sitzt.
Die Liebe der Frauen für die AKP und den Staatspräsidenten ist immens, doch
offensichtlich nicht grenzenlos. Erdoğan, den sie heute als „Mann wie ein
Mann“ verehren, könnte eines Tages aufwachen. Verlassen ohne
Abschiedsbrief. Mit keinem Gedicht dieser Welt könnte die einstige
„Koran-Nachtigall“, so der Kosename Erdogans, sie zurückbringen. Und es
stünde schlecht um den Kapitän, wenn seine Matrosinnen von Bord gingen.
14 Feb 2017
## AUTOREN
Sevgi Vatansever
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Türkei
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Porträt des Erdoğan-Clans: Eine schrecklich erfolgreiche Familie
Jede Heirat der Angehörigen Erdoğans ist eine politische, möglichst
profitable Entscheidung. Ein durchgeplantes Bild – wären da nicht die
Söhne.
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