# taz.de -- „Mir war es immer wichtig, Betroffene aktiv zu beteiligen“ | |
> Soziales Kurz vor Dienstschluss sieht der Landesbehindertenbeauftragte | |
> Jürgen Schneider noch viel Spielraum für Inklusion – für die eine | |
> Bewusstseinsveränderung nötig sei | |
Bild: „Die Nähe zu den Betroffenen hat mich vieles gelehrt“: der Landesbeh… | |
INTERVIEW Sandra Hertzke | |
taz: Herr Schneider, am Dienstag hätten Sie nach sieben Jahren eigentlich | |
Ihren letzten Arbeitstag als Landesbehindertenbeauftragter. Jetzt bleiben | |
Sie doch. Warum? | |
Jürgen Schneider: Die neue Sozialsenatorin, Elke Breitenbach, hat mich | |
gebeten, wegen des noch nicht abgeschlossenen Auswahlverfahrens für meine | |
Nachfolge den reibungslosen Übergang zu sichern. | |
Wie sind Sie zum Thema Behindertenpolitik gekommen? | |
Ich habe 1983 bei der Senatsverwaltung für Soziales meine Tätigkeit | |
begonnen. In meiner Dissertation hatte ich einen Exkurs zur | |
Schwerbehindertenbeschäftigung geschrieben, weshalb ich vom Senat für ein | |
europäisches Forschungs- und Entwicklungsprojekt angefragt wurde, das | |
gerade im Aufbau war. Das Thema Behinderung wurde zu dieser Zeit in der | |
Europäischen Gemeinschaft erstmals in Angriff genommen. | |
Auf welchem Stand war die Behindertenpolitik damals? | |
Wir haben uns damals viel darauf eingebildet, gute Sozialgesetze, eine gute | |
Behindertenhilfe entwickelt zu haben, aber die Menschenrechte von Menschen | |
mit Behinderung, die spielten zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle. In | |
Ländern wie Dänemark oder Niederlande war man da wesentlich weiter. | |
Wie sind Sie dann zum Amt des Landesbehindertenbeauftragten gekommen? | |
Vertreter des Landesbeirats für Menschen mit Behinderung haben seit Beginn | |
der neunziger Jahre in der gemeinsamen Arbeit Erfahrungen mit mir machen | |
können. Die Arbeitsgruppen Bauen und Verkehr, die ich fast zehn Jahre | |
moderiert habe, wurden ab 2001 Vorbild für die Arbeitsgruppen in allen | |
Verwaltungen. In der Arbeitsgruppe Verkehr wurde zum Beispiel erfolgreich | |
versucht, die Entwicklungen zu mehr Barrierefreiheit bei der | |
Fahrzeugausstattung gemeinsam voranzubringen. | |
Was ist Ihnen bei Ihrer Arbeit in der Behindertenpolitik am wichtigsten? | |
Mir war es immer wichtig, mit den Betroffenen persönlich ins Gespräch zu | |
kommen, sie aktiv an unseren Projekten zu beteiligen und von ihnen zu | |
lernen. In der Senatsverwaltung für Soziales hatte ich früher auch mit | |
Betroffenen zu tun, allerdings vor allem mit Aktivisten. In meiner Funktion | |
als Landesbehindertenbeauftragter lerne ich Betroffene in meinen | |
Sprechzeiten als Ratsuchende in einer ganz anderen Dimension kennen. Es | |
kommen diejenigen, die sich abgehängt fühlen und auch abgehängt sind. Mit | |
allen Problemlagen, die es zu beheben gilt: Arbeit, Wohnen, Mobilität, | |
Hilfsmittel und so weiter. | |
Hat das Amt Sie persönlich geprägt? | |
Diese Nähe zu den Betroffenen hat mich vieles gelehrt, war aber psychisch | |
belastender und anstrengender, als ich es vorher gedacht habe. Besonders, | |
weil ich in vielen Fällen nicht wirklich helfen konnte. Allerdings lösen | |
diese Probleme bei mir auch Überlegungen und Kräfte aus, um Lösungen zu | |
finden. | |
Hat Sie das Thema Menschen mit Behinderung schon immer bewegt? | |
Ich komme aus einem kleinen Dorf im Westerwald, und meine Kindheit in den | |
fünfziger und sechziger Jahren war davon geprägt, dass Menschen mit | |
Behinderung selbstverständlich in die dörfliche Gesellschaft und später ins | |
Arbeitsleben integriert wurden. Diese Selbstverständlichkeit ist dann | |
später auch in der dörflichen Struktur irgendwann wieder verloren gegangen. | |
Warum? | |
Ich glaube, dass der Mikrokosmos Dorf damals ganz andere Voraussetzungen | |
hatte. Es war heimelig. Gerade in Metropolen wie Berlin ist es oft | |
schwierig, als Minderheit von der Gesellschaft wahrgenommen und | |
selbstverständlich behandelt zu werden. Inklusion erfordert aber die | |
selbstverständliche Teilhabe behinderter Menschen, beginnend in der Kita, | |
weiter in der Schule und sich fortsetzend im Arbeitsleben. Sie bedeutet das | |
Nebeneinander von Menschen mit Behinderung und ihren Mitmenschen, inklusive | |
ihrer individuellen Nachteilsausgleiche. | |
Sie haben einmal gesagt, Inklusion sei noch einmal viel mehr als | |
Integration – vor allem braucht es eine Bewusstseinsveränderung. | |
Ich muss leider sagen, dass ich den Begriff Inklusion heute sehr oft | |
missbräuchlich verwendet sehe. Der Begriff Integration wird häufig in den | |
Begriff Inklusion umetikettiert – obwohl der Inhalt nicht der gleiche ist. | |
Diese Umetikettierung übertüncht einen noch nicht vorhandenen | |
gesellschaftlichen Konsens. Meine Bilanz nach 34 Jahren Beschäftigung mit | |
diesem Thema ist: Wir sind noch lange nicht so weit, von Inklusion sprechen | |
zu können. Bei uns auf dem Dorf gab es diesen gesellschaftlichen Konsens | |
schon, doch in der heutigen modernen Welt gibt es ihn nicht. | |
Denken Sie, dass die inklusiven Schwerpunktschulen ihren Beitrag zur | |
Inklusion leisten? | |
Zunächst sei vorausgeschickt, dass ich das erste Konzept der | |
Inklusionsschule abgelehnt habe, da es schöngerechnet wurde, aber so nie | |
hätte umgesetzt werden können. Danach wurde das Konzept neu angegangen und | |
mit den jetzigen inklusiven Schwerpunktschulen ein Zwischenschritt | |
erreicht. Das ist ein guter Anfang, doch der Weg bis zur inklusiven Schule | |
ist noch weit. Wichtig ist auch, dass der inklusive Aspekt mit dem | |
Schulabschluss nicht getan ist, sondern sich in der Berufsausbildung und im | |
weiteren Leben fortsetzen muss. Es bedarf der gezielten, für jeden | |
Lebensbereich notwendigen Nachteilsausgleiche. | |
Wie schätzen Sie den heutigen Stellenwert der Behindertenpolitik ein? | |
Darum mache ich mir große Sorgen. Ein Beispiel hierfür ist die Präambel der | |
Koalitionsvereinbarung des neuen Berliner Senats. Sie zählt alle | |
Diversitygruppen auf – bis auf die Menschen mit Behinderung! Natürlich kann | |
das ein Versehen sein, aber es könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass | |
der gesellschaftliche Konsens, die Selbstverständlichkeit noch immer fehlen | |
– nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Politik. | |
Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben? | |
Ich habe mit Menschen mit Behinderung Leitlinien für ein | |
behindertengerechtes Berlin entwickelt, die vom Senat Berlin 1992 | |
verabschiedet wurden und bis heute noch ganz praktische Auswirkungen haben. | |
Außerdem bin ich stolz darauf, im partizipativen Prozess dazu beigetragen | |
zu haben, dass das Berliner Abgeordnetenhaus 1999 als erstes Bundesland ein | |
Landesgleichberechtigungsgesetz verabschiedet hat. Zwischenzeitliche | |
Erfolge, die eng mit meiner Tätigkeit in den frühen neunziger Jahren zu tun | |
haben, sind inzwischen allerdings wieder zurückgedreht worden – etwa | |
verschiedene Regelungen zur Barrierefreiheit in der Berliner Bauordnung – | |
oder stehen sogar, wie die seit 25 Jahren verlässlich funktionierenden | |
inklusiven, barrierefreien öffentlichen Unisextoiletten, vor der | |
Abwicklung. | |
Wie geht es für Sie nach Ihrem Abschied vom Amt weiter? | |
Ich werde natürlich nach 34 Jahren dem Behindertenbereich – möglicherweise | |
publizistisch – verbunden bleiben, strebe aber als Rentner keine | |
spezifische Funktion an. | |
27 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Sandra Hertzke | |
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