# taz.de -- Staunen vor der Schöpfung | |
> Kurz und knapp Der Reality Check im Kurzformat eröffnet eine Bilderflut | |
> voll ungeahnter Perspektiven (Berlinale Shorts) | |
Bild: Dahinschwebende Hütten und Tiere: eine Szene aus „Everything“ von Da… | |
von Elise Graton | |
Wasser. Immer wieder Wasser. Beim Sichten der fünf Programme der | |
diesjährigen Sektion Berlinale Shorts fällt irgendwann auf, dass viele der | |
insgesamt 23 Kurzfilme aus 19 Ländern mit Variationen des gleichen Motivs | |
beginnen: Mal hält die Kamera auf das stille Blau eines Pools, mal fährt | |
sie mit einem kleinen Motorboot über die vorbeiziehende See. Oft ist es | |
eine Landschaft: ein Teich, ein Bach, ein spiegelglattes oder stürmisches | |
Meer, das grün, grau oder schwarz schimmert. Ein gutes Viertel der von | |
Maike Mia Höhne fein kuratierten, teils fiktiven, teils dokumentarischen, | |
teils experimentellen Auswahl eröffnet mit Aufnahmen von Wasser. | |
Vielleicht ist es auch gerade jetzt angemessen, sich Ozeane und Flüsse als | |
beständige stumme Zeugen menschlichen Treibens zu vergegenwärtigen, als | |
über den Globus verzweigte Kommunikationsnetzwerke, die wie das | |
Filmprogramm Menschen und ihre Geschichten miteinander verbinden. | |
Der somalische Flüchtling Abdi Aziis aus „Kometen“ von Victor Lindgren hat | |
es über das Meer nach Schweden geschafft, wo er nun durch einen Schleier | |
von Schneeregen die innere Kälte seiner Mitmenschen beobachtet. In „The | |
Crying Conch“ von Vincent Toi durchquert der frühere Sklave und Rebell, | |
Franswa Mackandal, ein zweites Mal den Atlantik von Guinea nach Haiti und | |
staunt über die immer währenden Schranken der Gesellschaft. | |
Gaspar, der 18-jährige Protagonist von Esteban Arrangoiz Juliens „Ensueño | |
en la Pradera“ (Träumerei in der Prärie), kehrt nach einem Jahr aus den | |
USA, wo er sich nie willkommen fühlte, in seine mexikanische Heimat zurück. | |
Trotz der dort anhaltenden Gewalt der Kartelle, die jeglichen | |
Unternehmungsgeist zum eigenen Zweck vereinnahmen, will der junge Mann es | |
nochmal mit dem einfachen Leben im ländlichen Idyll versuchen. | |
Man kann sich nicht immer aussuchen, wo man lebt – und schon gar nicht wo | |
man geboren wird: Um zur Schule, zur Apotheke oder an ein warmes Essen zu | |
gelangen, muss der zwölfjährige Palästinenser Muhammad Burqan aus „The Boy | |
from H2“ von Helen Yanovsky immer wieder die verschiedenen Checkpoints der | |
Stadt durchqueren. Als er mal dringend zur anderen Seite muss, schlängelt | |
er sich einfach fluide wie eine Katze durch den Zaun. Damit überschreitet | |
der Junge, dessen kindliche Entfaltung von allen Seiten beengt wird, gleich | |
mehrere Grenzen. Das macht er so unbefangen und natürlich, dass man ihn | |
aufmuntern möchte: „Die Welt gehört dir, du kannst alles.“ | |
## Grenzenlose Welt | |
Im Videospiel „Everything“ von David O’Reilly – das erste Videospiel, d… | |
um einen Bären für den besten Kurzfilm konkurrieren darf – ist es | |
tatsächlich soweit: „Everything“ simuliert eine grenzenlose Welt, die man | |
nicht nur aus allen Perspektiven bestaunen, sondern in der man auch alles | |
sein kann – das Meer, ein Baum, ein Insekt, ein Regentropfen, ein Atom. | |
Dabei geht es nicht um die ebenso illusorische wie kontraproduktive | |
Allmacht des Individuums, sondern um Aufgeschlossenheit und Empathie. Denn | |
„Everything“ fordert einem ab, sich weniger als Zentrum zu betrachten, als | |
vielmehr wie der flüchtige Gast, der man im ewig kreisenden Karussell des | |
Universums nun mal ist. Die Verheißung des Spieles? Freude am Staunen – | |
Staunen vor der Schöpfung. | |
Auch der unmenschliche Protagonist von Gabriel Abrantes’ „Os Humores | |
Artificiais“ (Die künstlichen Humoren) staunt über die Schöpfung. Coughmann | |
heißt der Roboter, der einzig aus einem kugelrunden Kopf besteht und | |
konzipiert wurde, um menschliche Gefühle zu identifizieren und | |
interpretieren. Dabei passiert etwas, das nicht programmiert wurde: Er | |
verliebt sich. | |
Das Prädikat „kitschig“ hat hier trotzdem nichts verloren, genauso wenig | |
wie in den vielen Beiträgen der Shorts-Auswahl, die sich nicht scheuen, | |
große Gefühle zu zeigen – und damit einer Welt trotzen, die als kaputt, | |
verschmutzt, zynisch und artifiziell dokumentiert wird. | |
Die schönste, überraschendste, unvergesslichste Szene der diesjährigen | |
Shorts-Auswahl ist vielleicht Florian Kunert gelungen. In seinem „Oh | |
Brother Octopus“ begleitet die Kamera einen Menschen und einen Oktopus, wie | |
sie gemeinsam, nebeneinander her, im indonesischen Meer schwimmen. | |
Friedlich und harmonisch – wenn auch nur für kurze Zeit. | |
Bis zum 19. 2.,siehe Programm der Berlinale Shorts: www.berlinale.de | |
10 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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