# taz.de -- MAßREGELVOLLZUG Wie man durch Spekulationen, alternative Fakten un… | |
> Verfahren zur Zwangseinweisung in die Psychiatrie gab es 1992 | |
Bild: Sehnsucht nach Normalität: gemeinsamer Aktionstag von PatientInnen, Ärz… | |
von Jan Zier | |
Irgendwann ist Meike S. da einfach hineingeraten. Und nach dem Streit mit | |
ihrem Ex fast ein Jahr in der forensischen Psychiatrie gelandet. Das fanden | |
auch lange Zeit alle okay, die in Bremen darüber zu entscheiden haben, ob | |
so jemand weggesperrt wird – die Richter ebenso wie die Staatsanwälte. Bis | |
die Bundesanwaltschaft einschritt. Sie verpasste der Bremer Justiz „eine | |
schallende Ohrfeige“, wie Sven Sommerfeldt, einer der Verteidiger von Frau | |
S., das nennt. Seither ist sie wieder frei. | |
Die 48-Jährige, so viel steht fest, ist eine Stalkerin. Gut zehn Jahre war | |
sie mit Noel G. zusammen, und am Ende wollte er sich von ihr, sie sich aber | |
nicht von ihm trennen. Im Dezember 2013 traktiert sie seinen Audi A8 mit | |
dem Hammer, gut 50 Dellen wird das Auto am Ende haben. Das Amtsgericht | |
Bremen-Blumenthal klagt sie deshalb der Sachbeschädigung an und verurteilt | |
Meike S. zu einer Geldstrafe von fast 1.000 Euro. Hätte sie diese Strafe | |
akzeptiert, die Geschichte könnte hier zu Ende sein. | |
Sie legt Widerspruch ein, es kommt zur Verhandlung. Meike S. sei | |
„obdachlos“, sagt sie seinerzeit dem Amtsgericht, lebt im Auto und ist von | |
dem Prozess „überfordert“. Eine Gutachterin kommt ins Spiel: Vera K. aus | |
Hannover. Ihre über einhundertseitige Expertise wird immer wieder dafür | |
sorgen, dass die Angeklagte in Klinikum Bremen-Ost untergebracht wird. | |
Die Psychiaterin attestiert Frau S. eine „krankhafte seelische Störung“, | |
genauer gesagt – und „unzweifelhaft“ – eine „Manie mit psychotischen | |
Symptomen“. Eindeutig ist diese Diagnose jedoch nicht: Der frühere | |
Chefarzt der Psychiatrie im Klinikum Bremen-Ost, Peter Kruckenberg, | |
jedenfalls findet es „wahrscheinlich“, dass sie eher an einer | |
Borderline-nahen Persönlichkeitsstörung leidet. | |
Zu dem kaputten Auto kommen 2014 noch zahlreiche telefonische | |
Belästigungen, Beleidigungen und Bedrohungen: „Wenn ich dich auf deinem | |
Motorrad sehe, stecke ich einen Stock in die Speichen“, soll sie ihrem Ex | |
auf die Mailbox gesprochen haben, und dass sie sein „Haus in Brand setzen“, | |
die Familie seiner Schwester „aufschlitzen“ werde. Wahr gemacht hat Meike | |
S. all das bis heute nicht. Aber: Eine Brandstiftung sei „nicht | |
auszuschließen“, schreibt die Psychiaterin in ihrem Gutachten. | |
Das wird gravierende Folgen haben: Im März vergangenen Jahres weist das | |
Amtsgericht Bremen-Blumenthal Meike S. in ein psychiatrisches Krankenhaus | |
ein. Begründung: Es sei, nach all dem, was die Gutachterin schreibe, „sehr | |
wahrscheinlich“, dass die Angeklagte in „wahnhafter Verkennung der | |
Beziehung“ schwere Straftaten begehe. Zumal sie, wie Amtsrichter Stegemann | |
behauptet, strafrechtlich „bereits erheblich in Erscheinung getreten“ sei, | |
unter anderem mit „Gewaltdelikten“. | |
Das stimmt zwar überhaupt nicht, wiegt aber als Vorwurf schwer. Und wird im | |
weiteren Laufe des Verfahrens sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch | |
vom Landgericht und dem Oberlandesgericht ungeprüft weiter behauptet. Doch | |
das Bundeszentralregister, in dem all diese Gewaltdelikte aufgelistet sein | |
müssten, weist keinerlei Eintragung auf. Später wird das Landgericht diesen | |
alternativen Fakt der Bremer Justiz als „Flüchtigkeitsfehler“ abtun. | |
Um hierzulande jemand in der Forensik einsperren zu dürfen, müssen zwei | |
Voraussetzungen erfüllt sein: Die Betroffene muss zumindest „vermindert | |
schuldfähig“ sein. Und es müssen von ihr „erhebliche rechtswidrige Taten … | |
erwarten“ sein, deretwegen sie „für die Allgemeinheit gefährlich“ sind,… | |
es in §63 des Strafgesetzbuches heißt. | |
Dass auch die zweite Bedingung erfüllt ist, stellt die Gutachterin K. nicht | |
fest. Sie schließt eben nur nicht aus, dass Meike S. zur Brandstifterin | |
werden könnte. Auf eine Nachfrage des Landgerichts Bremen erklärt sie, eine | |
solche Gefahr sei „nicht von der Hand zu weisen“. Dem Landgericht reicht | |
diese Spekulation, und dem Hanseatischen Oberlandesgericht auch. Insgesamt | |
rund zehn Monate wird Meike S. deshalb im Klinikum Bremen-Ost eingesperrt. | |
Jeder dieser Monate kostet den Staat dabei übrigens gut 10.000 Euro, sagt | |
Sven Sommerfeldt. Einen Richter interessiert diese Zahl freilich nicht: | |
„Judex non calculat“, sagen die Juristen – der Richter rechnet nicht. 2011 | |
wurden in Bremen 856 Menschen in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Das | |
waren vergleichsweise mehr als fast in jedem anderen Bundesland, [1][nur in | |
Schleswig-Holstein und Bayern gibt es noch mehr Zwangseinweisungen]. Bis | |
zum vergangenen Jahr ist die Zahl kontinuierlich auf 1.147 gestiegen. | |
Im November 2016 legt Sommerfeldt schließlich Verfassungsbeschwerde ein, | |
weil er die Freiheitsgrundrechte der Angeklagten verletzt sieht. Darüber | |
ist zwar bis heute nicht entschieden, doch für den Generalbundesanwalt ist | |
de Sache klar: „Ein Erfolg wird nicht zu versagen sein“, schreibt er dem | |
Bundesverfassungsgericht. | |
Zugleich übt er scharfe Kritik an der Bremer Justiz: Das Landgericht | |
verfehle die rechtlichen Anforderungen und verkenne die Maßstäbe für eine | |
Unterbringung, heißt es da. Die Frage, ob es überhaupt je verhältnismäßig | |
war, Meike S. in der Psychiatrie einzusperren, habe das Landgericht gar | |
nicht und das Oberlandesgericht nicht ordentlich geprüft. Stattdessen sei | |
man dort von „falschen Tatsachenbehauptungen“ ausgegangen“. | |
Die Bremer Staatsanwaltschaft beantragt daraufhin die „sofortige | |
Freilassung“ von Meike S. Das Landgericht ficht das nicht an: Es lehnt den | |
Antrag ab. Erst im Januar diesen Jahres hat es ein Einsehen: Eine schwere | |
Straftat sei „nicht mehr zu erwarten“, heißt es nun, mit Verweis auf die | |
„umsichtige“ Gutachterin Vera K. | |
Die lobt nun den „strukturierten und vor allem reizarmen Rahmen“ im | |
Maßregelvollzug. Dadurch sei die Manie von Meike S. „möglicherweise | |
abgemildert“ worden. Zu der Kritik der Bundesanwaltschaft verlieren die | |
Richter kein Wort. Ihr neuer WG-Mitbewohner beschreibt S. als „tapfere, | |
nette, gebildete und weltoffene Frau, mit der man sich gerne unterhält“. Ob | |
sie wütend sei, wird er vom Landgericht gefragt. „Ja“, sagt er: „Auf die | |
Klinik. Auf die Struktur. Auf die Verhältnisse.“ | |
Der Strafprozess gegen Meike S. wird derweil fortgesetzt. „Eigentlich | |
müsste er eingestellt werden“, sagt Anwalt Sommerfeldt. Wird er aber nicht. | |
Eine Strafe hat die Angeklagte schon bekommen. | |
4 Feb 2017 | |
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## AUTOREN | |
Jan Zier | |
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