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# taz.de -- Ist Leipzig das neue Berlin?
> Emigration Leipzig wächst und zieht Kreative aus aller Welt an. Auch
> immer mehr Berliner entdecken die Stadt für sich und stellen fest, dass
> es sich dort ganz gut leben lässt. Aber was hat es mit dem „Hypezig“ auf
> sich? Und wer sind die Menschen, die aus der Hauptstadt nach Sachsen
> ziehen? Vier Wahl-Leipziger erzählen
Bild: Investorentraum, Architektentraum oder schlicht Restmoderne? Die Josephst…
von Sarah Emminghaus (Text) und Betty Pabst(Fotos)
Seit Jahren umgibt die Stadt Leipzig ein Mythos. Der Schriftsteller André
Herrmann prägte 2013 den Begriff „Hypezig“, ein Gastronom aus der Stadt
hatte sich den Slogan „Leipzig, the better Berlin“ 2012 sogar schützen
lassen. Die sächsische Stadt hat einen steilen Aufstieg hingelegt: Sie
wächst, zieht Kreative aus aller Welt an. Auch immer mehr Berliner haben in
den vergangenen Jahren entdeckt, dass Leipzig mehr ist als die graue Stadt
im Osten; dass es sich dort tatsächlich ganz gut leben und arbeiten lässt.
Sogar besser als in Berlin. Aber wer sind eigentlich die Berliner, die aus
der Hauptstadt nach Sachsen gehen? Und ist Leipzig überhaupt noch das
Mietenparadies, als das es seit Jahren gilt. Oder eifert es immer mehr der
Hauptstadt nach – mit allen Konsequenzen?
Jan Krull ist ein Berliner, den es nach Leipzig gezogen hat. Er suchte
Freiräume, die Möglichkeit, die Gesellschaft mitzugestalten. Seit etwas
mehr als zwei Jahren wohnt der 27-Jährige auf einem Wagenplatz im Leipziger
Westen, einem linken Refugium.
Dort stehen, versteckt zwischen dichten Bäumen, etwa ein Dutzend Bauwagen
und Busse. Das Gelände wirkt wie ein Stillleben. Die Wagenburgler, die sich
hier bei wärmeren Temperaturen rings um den zentralen Küchenwagen tummeln,
haben sich zurückgezogen.
Nach Angaben der Stadt Leipzig gibt es zehn Wagenplätze. Drei davon haben
Verträge mit der Stadt. Laut der Leipziger Linken-Politikerin Juliane Nagel
ist das nicht selbstverständlich. Vielmehr fahre man hier eine „softe
Linie“. „Offiziell, also vom Gesetz her, gibt es Wohnen in Wägen einfach
nicht. Die Stadt hat sich entschieden, hier wegzugucken.“
Krull steckt viel Energie in die Bauarbeiten auf dem Wagenplatz. Gerade
baut er seinen eigenen Bus aus. Vom Kapuzenpulli bis zu den Schuhen ist er
ganz in schwarz gekleidet. Der Wahl-Leipziger erzählt, wie es zu seinem
Umzug nach Berlin kam.
„Als ich herkam, kannte ich niemanden, aber ich hatte gehört die Stadt
biete, wie Berlin vor zwanzig Jahren, noch Freiräume und
Mitgestaltungsmöglichkeiten. Von Berlin brauchte ich eine Pause. Meine
Einzimmerwohnung in Neukölln kostete 450 Euro. Ich habe in der ambulanten
Pflege gejobbt. Um zu überleben, hätte ich viel mehr arbeiten müssen, als
ich wollte.
Also habe ich meinen Rucksack gepackt und bin nach Leipzig getrampt.
Abgesetzt wurde ich in einem Industriegebiet im Osten. Es war Winter, kalt
und grau. Als ich mit der Straßenbahn in Richtung Hauptbahnhof fuhr, fiel
mir als Erstes auf, wie viele weiße Menschen hier leben.
Über den Umweg in einem linken Hausprojekt landete ich schließlich auf
einem Wagenplatz und zog in einen frei stehenden Bauwagen. Ich hatte schon
in Berlin Kontakt zu Wagen-Menschen, aber in Leipzig ist die Szene weniger
statisch. Hier funktioniert das viel inklusiver.
Als wir den Wagenplatz dann für ein geplantes Bauprojekt räumen mussten,
wusste ich: Leipzig ist nicht mehr der Ort, an dem man sich endlos austoben
kann. Die Zeit ist vorbei. Zum Glück haben wir trotzdem einen neuen Platz
gefunden. Aus der Nachbarschaft haben wir ziemlich viel Ablehnung gespürt.
Uns lässt das noch näher zusammenrücken.
Berlin gilt hier als Negativbeispiel für Stadtentwicklung. Gleichzeitig
wird das Band zwischen beiden Städten immer enger. Wir bekommen immer mehr
Besuch in immer kürzeren Abständen. Ich habe es nie bereut, nach Leipzig
gegangen zu sein, momentan spiele ich aber mit dem Gedanken zurückzugehen.
Ich vermisse die Vielfalt der Menschen auf der Straße. Aber ich weiß auch:
Die Möglichkeiten des entspannten Wohnens in Berlin gestalten sich minimal.
Andererseits sind einige Leipziger auch ausgrenzend, zwei Jahre
Legida-Demos sind dafür das beste Beispiel. Ich empfinde die Stadt manchmal
als hart und destruktiv. Viele Menschen haben ständig schlechte Laune.
Vielleicht bilde ich mir nur ein, dass mich viele in Schubladen stecken.
Womöglich gibt es aber die Wahrnehmung, dass ich aus einer Blase komme, mit
der viele nichts anfangen können, oder dass Menschen wie ich Schuld an der
Veränderung der Stadt sind.“
Nach zwei Jahren gab Legida, der Leipziger Pegida-Ableger, auf einer ihrer
Kundgebungen Anfang Januar bekannt, nun nicht mehr „spazieren gehen zu
wollen“. Auf der Demonstration versammelten sich laut der
sozialwissenschaftlichen Forschungsgruppe „Durchgezählt“ nur noch knapp 400
Anhänger, dafür bis zu 1.700 Gegendemonstranten. Bei der ersten
Legida-Veranstaltung im Januar 2015, an der etwa 3.000 Anhänger teilnahmen,
waren es sogar Zehntausende.
Auch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) sprach sich mehrfach
öffentlich für Toleranz und Vielfalt und gegen Legida aus. Auf dem
Katholikentag im vergangenen April sagte er: „Ich halte die Stimmung im
Land Sachsen kaum noch aus – und das betrifft auch meine Stadt.“
Die Freiräume in Leipzig sind andere, nämlich die günstigen Immobilien der
Stadt – sagt jedenfalls der Mythos. Vermietbarer Raum, so weit man schauen
kann. Die Möglichkeit zu gestalten – in traumhaften Altbauten, die Kosten
bezahlbar. Zumindest war das lange das vorherrschende Narrativ. Inzwischen
ist die Zahl der leerstehenden Wohnungen überschaubar geworden: Roman
Grabolle vom Netzwerk „Stadt für alle“ schätzt aufgrund von offiziellen
Zahlen von 2015 der Stadt Leipzig, dass derzeit nur noch 1,8 Prozent der
Wohnungen leer stehen und marktaktiv sind – das sind ungefähr 6.000
Wohnungen. Marktaktive Wohnungen, das sind Wohnungen, die schon nach
maximal sechs Monaten Sanierung bezogen werden können. Noch 2009 sprach die
Stadt selbst von 11 Prozent leerstehenden Wohnungen, davon waren 21.000
marktaktiv.
Zu dem Zeitpunkt waren es in Berlin nur etwa 3 Prozent; wahrscheinlich der
Grund, warum lange Zeit immer mehr Berliner in die sächsische Stadt zogen.
2006 kamen nach Angaben der Stadt Leipzig 800 Menschen aus Berlin; zehn
Jahre später schon 1.300. 2014 wurde mit 1.526 Wahl-Leipzigern der
bisherige Höhepunkt erreicht. Dazu kommen noch etliche Menschen, die ihren
Wohnsitz nicht ummelden. 2014 und 2015 zog es sogar mehr Berliner (2.979)
in die sächsische Stadt als andersherum (2.735).
Inzwischen werden die Mieten nicht nur in Berlin immer teurer, Leipzig
zieht langsam nach. Die Leipziger Grundmiete pro Quadratmeter betrug 2015
im Schnitt 5,29 Euro, die in Berlin etwa 50 Cent mehr. Noch vier Jahre
zuvor bezahlten Leipziger nur 5 Euro für den Quadratmeter, da kostete der
Quadratmeter in Berlin bereits so viel wie in Leipzig heute.
Anders sieht es bei neu geschlossenen Mietverträgen aus. Deren
Durchschnittsmiete lag 2015 in Berlin bei 8,91 Euro pro Quadratmeter. Der
Leipziger Schnitt liegt noch weit darunter. 2015 kosteten diese Wohnungen
nur 5,75 Euro pro Quadratmeter; was aber eine deutliche Steigerung
gegenüber 2012 ist. Damals kostete der Quadratmeter noch 5 Euro.
## Altbau, Innenstadtnähe, kein Erdgeschoss
Auch deshalb zog Christina B. 2013 gemeinsam mit ihrem Partner nach
Leipzig, zur Arbeit fährt sie trotzdem nach Berlin. Wochentags hin und her
zu pendeln, findet sie anstrengend. Also doch wieder Fernbeziehung? „Ich
hab schon überlegt, mir in Berlin wieder eine Wohnung zu mieten. Aber die
Preise gehen ja gar nicht, schon gar nicht als Zweitwohnung.“ Altbau,
Innenstadtnähe, kein Erdgeschoss: In Leipzig hatten sie sich damals nur
vier Wohnungen angesehen, die vierte wurde es dann.
Der Berliner Isaak Broders suchte 2013 nach einem Kunstraum, um sein
Fotolabor darin unterzubringen. Dagegen es selbst sanieren zu müssen, hatte
er nichts. Er fand ihn: Im Stadtteil Lindenau stehen ihm heute 120
Quadratmeter zur Verfügung, die Miete liegt etwas über 500 Euro. Für fast
den gleichen Preis teilte sich der Künstler am Ostkreuz in Berlin mit neun
anderen Künstlern eine umfunktionierte 35-Quadratmeter-Wohnung.
Anfangs pendelte Broder zwischen Berlin und Leipzig, der 37-Jährige
sanierte sein Fotolabor zwei Jahre lang. Erst 2015 verlagerte er auch
seinen Wohnsitz nach Leipzig. Die Einrichtung in Broders Studio wirkt
zusammengewürfelt. In der Ecke steht ein schwarzes Klavier, eine große
Fotografie von einem Wald hängt an einer Wand. Durch die große Fensterfront
blicken neugierige Passanten.
„Das Problem war in Berlin nicht mal, dass es nichts Bezahlbares gab – es
gab einfach so gut wie gar nichts. Wir haben dann diesen Raum in Leipzig
entdeckt. Hier gibt es oft nur das Problem, dass man sich Räume selbst
sanieren muss. Am Anfang gab es Ratten, es waren Löcher in den Wänden.
Alles war voller Poster, mit Graffiti zugesprüht.
Hier verdiene ich mein Geld vor allem mit dem Fotolabor. Verschiedene
Künstler kommen zu mir, und ich produziere ihre analogen Fotos. Nebenbei
gebe ich Fotolaborkurse, wenn das Geld mal nicht reicht. Ich habe mir auch
noch eine Bilderrahmenwerkstatt eingerichtet und kuratiere Ausstellungen.
Ein paar Tage die Woche arbeite ich also an meiner eigenen künstlerischen
Arbeit, ein paar Tage die Woche im Labor. Den Rahmenbau mache ich, wenn
sich ein Auftrag ergibt, auch meistens von anderen Künstlern.
Ich fand es schwierig, Berlin zu verlassen. Deswegen bin ich erst mal
gependelt. Ich war dann drei bis vier Tage in Berlin, bei meinem Job in
einer Werkstatt. Den Rest der Woche habe ich in Leipzig verbracht und an
dem Raum gearbeitet. Ich kannte so viele tolle Menschen in Berlin, gerade
im Kunstbereich. Aber wenn man sich jetzt nicht komplett durch Eltern oder
durch Stipendien finanziert, dann stehen Lohn und Lebenshaltungskosten dort
einfach nicht mehr im Verhältnis zueinander.
Leipzig ist so nahe und eine wunderschöne Stadt. Ich mag diese sehr
eigenwillige Art der Leipziger. Sie sind neugierig – das hat mir in Berlin
gefehlt. Die sind dort so abgebrüht. Ich bin auch jetzt immer noch jedes
dritte Wochenende in Berlin und gucke mir Ausstellungen an.
Ich verdiene mein Geld jetzt schon zum Großteil mit dem Ort hier – und das
finde ich ein Jahr nach der Sanierung schon echt gut.“
Fridey Mickel nahm sich eine Pause von der Berliner Kunstszene. 2010 ging
sie nach Leipzig. Die US-amerikanische Galeristin betrieb bis 2013 eine
Künstlerresidenz in der Plagwitzer Baumwollspinnerei. In dieser Residenz
konnten Künstler aus der ganzen Welt auf über 300 Quadratmetern für einige
Monate arbeiten und ihre Arbeiten ausstellen. Viele kamen laut der
37-Jährigen mit der Hoffnung, entdeckt zu werden; umgeben von Künstlern wie
Neo Rauch.
Die ehemalige Baumwollspinnerei ist etwas Besonderes: Ein Gelände im Westen
der Stadt, früher Industriegebiet, heute haben sich hier Galerien, Ateliers
und Werkstätten angesiedelt. Für Projekte in der Spinnerei und andere
Kulturangebote der Stadt gab Leipzig im vergangenen Jahr über 5 Millionen
Euro aus, das Budget für Kulturförderung soll sich seit 2016 jährlich um
2,5 Prozent steigern.
## Von Berlin nach Leipzig und zurück
Mickel aber wohnt inzwischen wieder in Berlin, in einer Dreizimmerwohnung
mit ihrer neunjährigen Tochter. In ihrem Flur hängt ein riesiges Gemälde,
die kleine Küche würde super in eine Studenten-WG passen. Bilder und Karten
hängen an Wänden und Kühlschrank; die Spüle ist ein Provisorium, in einen
verschnörkelten Holztisch eingebaut.
„2010 wurde ich eingeladen, eine Ausstellung in der Baumwollspinnerei zu
organisieren. Dann ergab sich die Möglichkeit, die Künstlerresidenz
Pilotenküche zu leiten. Solche Künstlerresidenzen haben bereits Menschen
aus der ganzen Welt nach Leipzig gebracht; viele bleiben nach ihrem
Aufenthalt in der Spinnerei. Leipzig erschuf eine ganz besondere
Atmosphäre.
Mir wurde Berlins Kunstszene damals irgendwie zu oberflächlich. In Leipzig
wurde auf den Ausstellungseröffnungen viel mehr diskutiert und tatsächlich
über Kunst geredet. Zunächst hatte ich noch eine Galerie in Berlin, die
habe ich dann irgendwann aufgegeben und nur noch in Leipzig gearbeitet. Zu
der Zeit hatte ich zwei Wohnungen. Besonders im Leipziger Osten kann man
auch einfach noch so viel ausprobieren – wer zum Beispiel ins
Kulturmanagement in Leipzig will, muss nicht erst mal in Theater- oder
Museumsfoyers arbeiten, sondern kann sich direkt einen der vielen freien
Räume suchen und los experimentieren. Das ist in Berlin schwieriger
geworden. Was mich auch nach Leipzig gezogen hat, war genau diese Freiheit.
Es ist ein toller Ort, um Kunst zu machen, und das in einer so kleinen
Stadt. Nach einer Weile hatte ich aber keine Lust mehr auf Leipzig. Es
wurde mir zu ruhig, zu klein. Was mir aufgefallen ist: Dort stößt man
irgendwann an Grenzen. Auch im Kopf, nicht nur wegen der Stadtgröße. Viele
Leute sind aufgeschlossen, aber gerade viele Galeriebesitzer sind so
engstirnig, sie probieren kaum Neues aus.“
Galeristin Mickel wollte zurück in die Hauptstadt, weil Leipzig ihr in
vielerlei Hinsicht zu klein wurde. Und auch Wagenburgler Krull denkt
darüber nach, zurückzuziehen. In seiner Wahlheimat vermisst er die
gesellschaftliche Vielfalt. Fotograf Broder hingegen ist glücklich in
Sachsen; er hat hier mit seinem günstigen Kunstraum viel mehr kreative
Möglichkeiten gefunden. Auch Pendlerin Christina B. wird wohl in Leipzig
bleiben, weil sie es sich nicht leisten könnte, wieder in Berlin zu wohnen.
Umziehen würde die 47-Jährige jedoch in Leipzig nicht mehr, da auch hier
die Mietpreise steigen. Es wird sich also noch zeigen müssen, ob der Mythos
Leipzig wirklich bestehen bleibt.
28 Jan 2017
## AUTOREN
Sarah Emminghaus
Betty Pabst
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