# taz.de -- Mama Katrin und ihre Handtaschenträger | |
> Katrin Keller hat vor drei Jahren eine neue Lebensaufgabe gefunden: | |
> anderen bei den Herausforderungen des Lebens zu helfen. Die offizielle | |
> Bezeichnung: „Flüchtlingslotsin“ | |
Bild: „Die Flüchtlinge wohnen nun zwischen gehäkelten Spitzentischdecken un… | |
Aus Mainz Timo Lehmann | |
„Alles wird gut, Muhamad“, sagt Katrin Keller. „Inschalla“, hoffentlich, | |
antwortet der, öffnet schon mal seinen Mund, kneift die Augen zusammen. Der | |
Zahnarzt hat noch gar nicht den Raum betreten, da hat sich der stämmig | |
gebaute Syrer bereits mental auf das Schlimmste vorbereitet. So richtig | |
weiß er nicht, was mit ihm passieren wird. Alles dauert nur fünf Minuten, | |
da ein bisschen polieren, oben und unten. Das nächste Mal soll eine | |
Wurzelbehandlung durchgeführt werden, erklärt der Doktor. Muhamad schaut | |
fragend zu seiner Betreuerin Katrin Keller, die simultan mit Handzeichen | |
versucht, dem Flüchtling klarzumachen, was eine Wurzelbehandlung ist. | |
„Tamam“, okay und Kopfnicken von Muhamad. „Bekommen ihre Migranten denn | |
schon das Arbeitslosengeld?“, fragt ein Arzthelfer an der Rezeption und | |
blickt stirnrunzelnd zu dem Flüchtling Muhamad, der sich gerade einen Spaß | |
mit dem Treppenlift macht. „Du machst immer einen Scheiß“, sagt sie späte… | |
Die beiden lachen. | |
Zahnarztbesuch mit einem Flüchtling, Alltag für Katrin Keller. Die | |
Soziologin, 52 Jahre, hat vor drei Jahren eine neue Lebensaufgabe gefunden: | |
anderen zu helfen. Seit einem Wochenendseminar, bezahlt vom von der | |
Kreisverwaltung Mainz-Bingen, trägt sie die offizielle Bezeichnung | |
„Flüchtlingslotsin“. Weniger offiziell, aber von Herzen nennen die | |
Flüchtlinge sie „Mama Katrin“. Sie arbeitet rund 30 Stunden die Woche für | |
die Flüchtlinge, ehrenamtlich neben ihrer Teilzeitstelle an der Universität | |
in Mainz. | |
2.000 Einwohner zählt das Dorf Gau-Bischofsheim, in dem sie lebt, rund 20 | |
Busminuten südlich von der Landeshauptstadt. 65 Flüchtlinge erleben hier | |
deutsche Friedensidylle. Einfamilienhäuser, Wohlstandsvorgärten, Weingüter, | |
hindurch fließt der „Spatzenbach“. | |
## Politische Korrektheiten | |
Hauptaufgaben der Lotsin Katrin Keller: die Auseinandersetzung mit | |
Behörden: 15-seitige Formulare mit den Flüchtlingen ausfüllen, | |
telefonieren, und alles, was im Alltag anfällt. „Erklären Sie mal einem | |
Flüchtling, der gerade um das Überleben seiner Schwester bangt, er müsse in | |
Deutschland noch die GEZ-Befreiung beantragen.“ Schon rund 100 Flüchtlinge | |
hat sie betreut, derzeit befinden sich mehrere Häuser mit 25 Flüchtlingen | |
in ihrer Obhut. | |
Stefan Hirschauer, Jogginghose, leicht zotteliges Haar, sitzt seiner Frau | |
Katrin Keller im Esszimmer gegenüber. Der Soziologieprofessor für | |
Genderstudies hat Käsebrötchen serviert, das Ehepaar streitet sich. Es geht | |
um das Kopftuch. „Auf politische Korrektheit legen wir nicht so viel wert. | |
Hier im Haus wird Klartext gesprochen“, sagt Stefan Hirschauer. Seine Frau | |
will die Kopftuchträgerinnen nicht kritisieren. „Wenn, dann müssen sie sich | |
selbst auflehnen.“ Die Diskussion führen die beiden Wissenschaftler seit | |
Jahren. | |
Die Helferin arbeitet selbst als Soziologin, versteht sich als Feministin, | |
inzwischen sei sie jedoch pragmatischer geworden. Wenn sie mit sechs | |
jungen, männlichen Flüchtlingen durch die Behörden zieht – sie voran –, | |
nehme immer einer ihre Handtasche. Anfangs nahm sie sie zurück, inzwischen | |
denkt sie anders. Sie will ihnen nicht dauernd das Gefühl geben, dass sie | |
irgendwas falsch machen. „Auch die Kopftuchdebatte ist doch nur ein | |
Nebenschauplatz.“ Nicht mal bei den eigenen Kindern schaffe man es, sich | |
immer mit pädagogischen Maßnahmen durchzusetzen; wieso solle man das bei | |
Volljährigen schaffen, die mit Flucht- und Kriegserfahrungen längst | |
erwachsen geworden sind. | |
Die Devise von Katrin Keller: das Andere vorleben, miteinander sprechen. | |
Drei Flüchtlingsfamilien wohnen im Dorf, die Frauen verlassen nicht allein | |
das Haus. Immer wieder versucht sie ihnen zu erklären, dass sie sich in | |
Gau-Bischofsheim nicht fürchten müssen. Bisher vergeblich. | |
Vielfach versteht sie sich auch als soziale Verständigerin in den | |
Unterkünften. In einem Haus, zehn Minuten Fußweg von ihrem eigenen | |
entfernt, leben drei Syrer, drei Pakistaner und ein Iraner von den Zeugen | |
Jehovas. Gerade ist noch ein evangelischer Iraner eingezogen. Die Gruppen | |
leben zusammen, haben keine gemeinsame Sprache, kommen aus verschiedenen | |
Kulturen – zwar laufe insgesamt alles gut, doch müsse die Helferin auch mal | |
schlichten. Die Kommunikation läuft dann ohne Sprache ab, alles dauert viel | |
länger, aber es funktioniert. Besonders gut eignen sich die Emoticons auf | |
dem Handy. Mit den kleinen Figuren und Gesichtern stiftet Katrin Keller | |
Hausfrieden. | |
Das Haus, in dem die Flüchtlinge leben, gehörte einem verstorbenen | |
Rentnerpaar – ein Glücksfall. Teller, Nähgarn, Matratzen, alles war da. Die | |
Gemeinde mietete das Haus von den Erben. „So läuft das meistens ab.“ Die | |
jungen Flüchtlinge wohnen nun zwischen gehäkelten Spitzentischdecken und | |
mit Blumen und Vögeln bestickten Wandbildern. „Sehr schön“, findet ein | |
18-jähriger Pakistaner diese Bilder. | |
## Unberechenbarer Idealismus | |
Zwei Syrer haben im Wohnzimmer Tee und Kekse bereitgestellt. Katrin Keller | |
lernt mit denen, die sich das wünschen, zwischendurch Deutsch. Für Hussam, | |
23, aus Syrien stellt sich die Frage, ob er den Deutschkurs für Erwachsene | |
oder für Jugendliche besuchen soll. In seiner Heimat hat er studiert, ein | |
Jugendkurs würde ihm anderthalb Jahre kosten, der für Erwachsene nur eines. | |
Noch weiß er nicht, ob er eine Ausbildung oder ein Studium machen soll. | |
„Ihr müsst mal was wollen“, sagt die Betreuerin. Katrin Keller will ihre | |
Schützlinge motivieren, die Schicksalsschläge hinter sich zu lassen und die | |
neu gewonnen Chancen zu nutzen. | |
Moataman, 20, schaut immer wieder auf sein Handy. Sein Heimatdorf wurde mit | |
Bomben angegriffen, nur ein „Hallo“ hat ihn per WhatsApp von seinem Vater | |
erreicht, ein Lebenszeichen. Nun aber will er wissen, was passiert ist. | |
Vermutlich gibt es gerade keinen Strom, Katrin Keller streichelt den Jungen | |
am Arm. Die gebürtige Bielefelderin ist auch das, eine Seelsorgerin. Noch | |
am Morgen begleitete sie eine Geflüchtete zu einer Abtreibung. Die Frau | |
lernte in der Erstunterkunft einen Mann kennen, der Vater ihrer Kinder im | |
Heimatland darf das nicht erfahren. Einmal musste sie einem Flüchtling | |
sagen, dass seine Familie erst ein Jahr später als erwartet nach | |
Deutschland kommen kann. Der ältere Herr schubste sie zur Seite, rastete | |
aus. | |
Ein unberechenbarer Idealismus treibt die Flüchtlingshelferin an. All die | |
Widersprüche, die sie erlebt – all das passiert: Rassismus unter | |
Flüchtlingen, der Antisemitismus, monatelang muss sie sich mit | |
Kleindelikten beschäftigen. „Es trifft natürlich nicht auf alle zu, sondern | |
auf einige, so wie bei Deutschen eben auch.“ | |
Im Dezember 2016 schrieb sie der taz einen Leserbrief, reagierte auf eine | |
sehr direkt formulierte Kolumne: „Ausländer – Opfer; Deutsche – Täter�… | |
schrieb sie, so einfach sei das alles nicht. Als sie vor drei Jahren eher | |
zufällig in die Freiwilligenarbeit mit Flüchtlingen reinrutschte, gab es | |
einige, die sich engagierten und inzwischen nicht mehr kommen, die an ihren | |
Idealen scheiterten. Sie hat Allianzen geschlossen mit Nachbarn, die ihr | |
vorher fern waren, etwa mit Leuten von der Kirche. „Es geht um die Sache, | |
um die einzelnen Menschen und ihre Biografien.“ | |
Mit dem Helfer Charles Franck, 65, arbeitet sie besonders intensiv | |
zusammen. Der Rentner, sein Vater war Amerikaner, ist ein lockerer Typ, | |
trägt Brille und Pudelmütze, er versteht sich als Altlinker. Die beiden | |
haben eine Einzimmerwohnung für einen Flüchtling gefunden. Das Zimmer ist | |
zehn Quadratmeter groß, liegt in einem dunklen Innenhof, das Bett steht | |
zwischen Türeingang und Pantryküche. Als der Vermieter erfährt, der Vertrag | |
würde mit der Gemeinde abgeschlossen werden, winkt er ab. Da habe er | |
schlechte Erfahrungen gemacht. Charles Franck und Katrin Keller reden auf | |
den älteren Herrn ein. Kaum ein Eigentümer will an Flüchtlinge vermieten. | |
Schließlich sagt der Winzer, er müsse noch mal mit seiner Frau sprechen. | |
Ein Erfolg für die Flüchtlingslotsen. Die beiden tauschen sich fast täglich | |
darüber aus, wie sie verfahren sollen, was in den einzelnen Unterkünften | |
gerade passiert, wer in welcher Behörde gerade keine gute Laune hat. Einem | |
Pakistaner konnte Charles Franck einen Job bei einem Reifenwechsler | |
organisieren, ein Syrer fing eine Ausbildung bei der Sparkasse an. | |
## Die Fotos der Toten | |
Die beiden gehen oft an ihre Grenzen, sagen sie, vor allem psychisch. Ein | |
Flüchtling offenbarte kürzlich, dass er schwul ist. Die anderen Mitbewohner | |
sollen das nicht erfahren. Ein Flüchtling wurde in seinem Heimatland | |
sexuell missbraucht, Charles Franck begleitet ihn zu Therapien. Sie sehen | |
sich Fotos von zerbombten Häusern an, von toten Familienmitgliedern. Es | |
gibt Streit darüber, wer Alkohol trinkt, wer sich nachts in der Dusche zum | |
Onanieren einschließt. Den beiden bleibt nichts verborgen. | |
Katrin Keller meint, es fehle gerade an Frauen, Jüngeren und | |
alteingesessenen Migranten in der Arbeit mit Flüchtlingen. Sie versteht es | |
nicht, wenn Frauen sagen, sie wollen nur mit Frauen in Kontakt kommen, oder | |
wenn Helfer nur mit Christen arbeiten möchten, wenn Nachbarn kaputte Möbel | |
vorbeibringen, aber es nicht zu den Dorftreffen schaffen, in denen sie den | |
Flüchtlingen begegnen können. Sie versteht nicht, dass immer alle sagen, | |
sie hätten keine Zeit, mitzuhelfen. Sie versteht nicht, warum Behörden sich | |
so oft querstellen. | |
Sie versteht nicht, dass alte Freundschaften daran zerbrochen sind, dass | |
man unterschiedlicher Auffassung darüber war, wie man mit den Flüchtlingen | |
umgehen soll. Sie versteht nicht, warum ein offensichtlich unpolitischer | |
Flüchtling ein Foto von Saddam Hussein auf seinem Handy als Profilfoto | |
nutzt oder warum die Afghanen und die Syrer beim Fußballspiel nicht in | |
einem Team mit Nordafrikanern sein wollen. | |
Katrin Keller versteht nicht, warum eine Unterkunft von den Flüchtlingen | |
völlig zugemüllt wird, während man in der nächsten vom Boden essen kann. | |
Katrin Keller aber hat eines verstanden: dass, wenn sie helfen will, sie | |
die Menschen erst mal so nehmen muss, wie sie sind. Katrin Keller sitzt | |
abends allein in ihrem Esszimmer, schaut an die Zimmerdecke, verschränkt | |
die Arme. Die schönsten Momente in den vergangenen Jahren seien für sie die | |
gewesen, wenn sie spätabends mit einem Flüchtling nach Frankfurt zum | |
Flughafen gefahren sei. Wenn dort Frauen stehen mit vollgepackten | |
Rollwagen, kleinen Kindern, wenn sich die Familienmitglieder in den Armen | |
liegen, weinen vor Freude, und wenn sie sich dann umdrehen und „Mama | |
Katrin“ rufen. Dann weiß Katrin Keller, sie konnte helfen. | |
23 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Timo Lehmann | |
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