# taz.de -- Humboldt für alle | |
> Wissenschaft Die Staatsbibliothek Berlin hat den Nachlass des | |
> Universalgelehrten in 75.000 Bilderndigitalisiert – im Mittelpunkt stehen | |
> seine berühmten neun amerikanischen Reisetagebücher | |
von Astrid Ehrenhauser | |
Winzige Buchstaben quetschen sich in die schmalen Zeilen. Französische | |
Sätze mischen sich mit Latein und ab und zu Deutsch. Dazwischen immer | |
wieder ausgeschnittene Lücken, zusätzlich aufgeklebte Notizen und | |
Querverweise – Alexander von Humboldts Reisetagebücher zeugen von seiner | |
unorthodoxen Arbeitsweise. | |
Ein dreijähriges Forschungsprojekt macht nun möglich, dass sich jedermann | |
vor dem eigenen Rechner mit den Aufzeichnungen des Naturforschers und | |
Entdeckers (1769–1859) beschäftigen kann. Die Staatsbibliothek zu Berlin – | |
Preußischer Kulturbesitz hat zusammen mit der Universität Potsdam den | |
gesamten Nachlass Humboldts digitalisiert und für alle öffentlich | |
zugänglich gemacht. Für das Projekt hat das Bundesministerium für Bildung | |
und Forschung (BMBF) einen Millionenbetrag zugeschossen. Ein Großteil des | |
Nachlasses ist in Besitz der Staatsbibliothek Berlin, den Rest stellte die | |
Jagiellonen-Bibliothek in Krakau zur Verfügung. | |
„Ich halte die Digitalisierung von Humboldts Nachlass für ein großartiges | |
und hochspannendes Projekt, das der Forschung erheblich ausgeweitete | |
Möglichkeiten zur Verfügung stellt“, sagt Johannes Görbert von der Freien | |
Universität Berlin. Der wissenschaftliche Mitarbeiter arbeitet neben seiner | |
Post-Doc-Stelle an einem Forschungsprojekt, das Humboldts „kleine | |
Schriften“ sammelt und editiert. Humboldts Nachlass sei bis jetzt kaum | |
erforscht, sagt Görbert, gerade mal zehn Prozent der Aufsätze, Artikel, | |
Essays seien editiert. Dabei sei das Material sehr aufschlussreich. So | |
lasse sich zum Beispiel anhand der amerikanischen Reisetagebücher | |
nachvollziehen, wie die Humboldt’sche Feldforschung in Südamerika | |
funktionierte und wie Humboldt die Texte auch nach seiner Rückkehr immer | |
weiter mit Notaten seiner Studien anreicherte. Dass seine Texte nun | |
weltweit zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen, ist aus Görberts Sicht | |
„unbedingt zu begrüßen“. | |
## 33.000 Blätter | |
Drei Jahre hat das Team in der Staatsbibliothek gebraucht, um rund 75.000 | |
Bilder zu scannen und zu fotografieren. Etliche Seiten mussten mehrmals | |
fotografiert werden, um den aufgeklebten Notizen gerecht zu werden. | |
Restaurator*innen haben jedes einzelne der 33.000 Blätter überprüft, | |
teilweise aufwändig restauriert und in säurefreie Kartons, mit Luftpolstern | |
und dicker Pufferung in Mappen gebündelt. Fachwissenschaftler*innen haben | |
die digitalisierten Dokumente geordnet. Programmierer*innen und | |
IT-Entwickler*innen für das Netz aufbereitet. „Es war ein sehr aufwändiger | |
Digitalisierungsprozess, ein außerordentlich schwieriges Projekt“, sagt die | |
Pressesprecherin der Staatsbibliothek, Jeanette Lamble. Und es war teuer: | |
„Ein mehrfacher Millionenbetrag“ dürfte es wohl gewesen sein. Das | |
Digitalisierungszentrum der Staatsbibliothek war nach eigenen Angaben | |
phasenweise nur mit der Bearbeitung von Humboldts Nachlass beschäftigt, | |
andere große Vorhaben hätten ausgelagert werden müssen. | |
Thematisch befassen sich Humboldts Briefe, Notizen, Artikel, Manuskripte, | |
Skizzen und Tabellen mit allerlei Themen: Sklaverei, Astronomie, | |
Meeresströmungen, Naturgeschichte, Geschichte der Weltansicht, Mineralogie, | |
Geografie der Pflanzen und ethnischen Klassifizierungen. Ein „ungehobener | |
Schatz“, findet Lamble. Die Digitalisierung soll dabei helfen, das „sehr | |
kleinteilig und in sehr engem Abstand Geschriebene zu verstehen. Man kann | |
an jede Stelle heranzoomen.“ | |
Das Herzstück der Sammlung sind die neun amerikanischen Reisetagebücher, zu | |
der die Staatsbibliothek zu Berlin diese Woche eine Tagung veranstaltet. | |
Etwa 4.000 Seiten hat Humboldt während einer Forschungsreise durch Mittel- | |
und Südamerika von 1799 bis 1804 geschrieben. Junge Wissenschaftler*innen | |
des Instituts für Romanistik der Universität Potsdam haben diese in einem | |
Teilprojekt inhaltlich untersucht. Drei Doktorandinnen und zwei | |
Postdoktoranden befassten sich mit der Darstellung von Landschaft, von | |
Sklaverei – deren Gegner Humboldt im Übrigen war –, den Skizzen und | |
Zeichnungen in den Tagebüchern und einem Kulturvergleich während Humboldts | |
späterer Italienreise. Der Potsdamer Projektkoordinator Julian Drews lobt | |
die Digitalisierung: „Es ist viel leichter, sich vom Rechner mit den | |
Manuskripten auseinandersetzen zu können. Und alles steht der Allgemeinheit | |
zur Verfügung.“ | |
Alexander von Humboldt werde zwar traditionellerweise oft als „letzter | |
Universalgelehrter“ bezeichnet, Drews betont jedoch: „Humboldt war ein | |
früher Globalisierungstheoretiker. Er hat Dinge verknüpft, aber in ihrer | |
eigenen Logik bestehen lassen. Diese Perspektive und ihre Geschichte | |
brauchen wir heute.“ Humboldt, so Drews, sei nach wie vor aktuell. | |
Verschiedene Forschungsgruppen und -institute sehen sich in seiner | |
Tradition. Die Alexander von Humboldt-Stiftung etwa fördert | |
Wissenschaftskooperationen. An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der | |
Wissenschaften läuft seit Januar 2015 ein auf 18 Jahre angelegtes Vorhaben | |
zur vollständigen Edition der Reisemanuskripte Humboldts. Die Akademie gibt | |
zweimal jährlich die Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studienmit | |
heraus. | |
Pressesprecherin Lamble hofft, dass der digitale Humboldt ein Humboldt für | |
alle wird. „Das ist Demokratisierung vom Feinsten. Humboldt hat | |
international schon immer die Öffentlichkeit interessiert. Jetzt kommen | |
alle ganz einfach an die Quellen ran. Sie haben alles auf einen Schlag und | |
müssen nicht reisen. Und es kostet nichts.“ | |
Humboldts Mikroschrift dürften trotz Zoom jedoch nicht alle entziffern | |
können. | |
Humboldts digitaler Nachlass: www.humboldt.staatsbibliothek-berlin.de/werk/ | |
Konferenz zu Humboldts amerikanischen Reisetagebüchern, Mittwoch von 9.30 | |
bis 13 Uhr, Potsdamer Straße 33, Kulturforum Berlin. Anmeldung online | |
erforderlich | |
18 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Astrid Ehrenhauser | |
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