| # taz.de -- Weihnachtsansprache der taz-LeserInnen: Bleiben Sie Fragende! | |
| > Am 25. hält Joachim Gauck seine Weihnachtsansprache. Auch unsere | |
| > LeserInnen haben Grundsätzliches zu sagen. Eine Sammlung. | |
| Bild: Ein paar der teils liebevoll gestalteten handschriftlichen Weihnachtsansp… | |
| Eine gute Woche vor Weihnachten forderten wir die Leserinnen und Leser der | |
| taz.am wochenende auf, auf einer leeren Zeitungsseite eine | |
| Weihnachtsansprache zu verfassen. Mehr als 40 Briefe und Mails erreichten | |
| uns. Wir haben einige Sätze und Absätze aus den Beiträgen zu einem | |
| durchlaufenden Text kombiniert: | |
| Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, | |
| Ende Kalender! Ja, eigentlich ist es Unsinn, zum Jahreswechsel irgendetwas | |
| Grundsätzliches sagen zu wollen. Es ist ja nur das willkürlich festgesetzte | |
| Ende eines von der Natur vorgegebenen Kreislaufs. | |
| Lassen Sie mich dennoch ein paar Worte verlieren, Zeit habe ich Ihnen ja | |
| bereits einige geraubt. Zunächst einmal möchte ich mich entschuldigen für | |
| alle Reden während meiner Amtszeit, die der christlichen Botschaft nicht | |
| entsprachen. Die jetzige Flüchtlingspolitik ist unchristlich. Wir werden | |
| sie/uns ändern. | |
| Wir bereuen unsere menschliche Härte und gewähren allen Flüchtlingen, die | |
| jetzt hier sind, Asyl. Sie dürfen ihre Familien (Ehepartner und Kinder) | |
| sofort nachholen. Nehmen Sie Kontakt zu diesen Menschen auf und | |
| unterstützen Sie sie darin, sich bei uns einzuleben und wohl zu fühlen. | |
| All denen, die hingegen mit der aktuellen Flüchtlingspolitik einverstanden | |
| sind und sich auf dem richtigen Weg wähnen, rate ich ich für das Jahr 2017 | |
| wahlweise zu einer Woche Aufenthalt in Kabul oder Ost-Aleppo. Die | |
| Bundesregierung kommt für all Ihre Unkosten auf. | |
| Und nun zur Umwelt: Große Freude – das Klima wird gerettet. Der | |
| Kohleausstieg kommt zügig, bei Arbeitsplatzverlust wird selbstverständlich | |
| ein auskömmliches Grundeinkommen gezahlt. Alle Autos müssen am 1.1.2017 | |
| beim TÜV abgegeben werden. E-Busse und -Bahnen fahren im 5-Minuten-Takt, | |
| Lasten-Taxis können mit Fahrer gemietet werden. Alle Straßen den Rädern! | |
| Am 1.1.2017 werden ebenfalls alle Rüstungsexporte eingestellt. Angestellte | |
| dieser Firmen werden zu Alten- und Krankenpflegern umgeschult – bzw. bei | |
| der Wach- und Schließgesellschaft eingesetzt (freie Wahl). | |
| 2017 wird zum Jahr der Langsamkeit ausgerufen. Schließlich ist in unserem | |
| Land nunmehr jede/r 4. BürgerIn im Rentenalter. Doch auch Jüngere sind oft | |
| durch Handicaps zur Verlangsamung ihrer Lebensaktivitäten gezwungen. Lassen | |
| Sie uns daher langsam essen und trinken, genussvoll kauen und schlucken – | |
| das fördert die Verdauung und steigert das Wohlbefinden. Langsam gehen, | |
| laufen, radeln und fahren erhöht die Sensibilität für die Umwelt und senkt | |
| Unfallrisiken. Kein Drängeln mehr in Warteschlangen. Ich bin sicher, es | |
| werden wunderbar entspannte Kontakt- und Gesprächssituationen zwischen | |
| Ihnen entstehen, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen. | |
| Denken wollen wir jedoch nicht nur an die Alten, sondern auch an die | |
| Jungen. Wir wissen seit Jahren, dass unsere Politik – ob schwarz-gelb, | |
| rot-grün oder schwarz-rot – die Ungleichheit verstärkt. Das muss ein Ende | |
| haben. Kinder müssen systemrelevant werden, nicht nur Antonia und Jonas | |
| sondern auch Ayşe und Justin. Nach jedem Armutsbericht heißt es: Wir dürfen | |
| keine Kinder zurücklassen, machen es aber munter weiter. Also, lassen wir | |
| einen Ruck durch Deutschland gehen und steuern wir um, weg von den | |
| Begüterten – hin zu den Schwächeren. | |
| Wir alle müssen erst wieder lernen, weniger nach Unterschieden und stärker | |
| nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Wieder Mensch werden. Wenn Frost die | |
| Fensterscheiben vereist hat, hilft ein Föhn, sie aufzutauen. Es braucht | |
| also nur etwas Wärme, um so viele Probleme zu lösen. | |
| Zum Schluss habe ich noch ein weiteres Anliegen: Haben Sie im vergangenen | |
| Jahr den Eindruck gewonnen, in einer einfachen, überschaubaren Welt zu | |
| leben? Vermutlich nicht. Deshalb bitte ich Sie inständig: Misstrauen Sie | |
| einfachen Lösungen! Haben Sie Mut zur Unsicherheit! Bleiben Sie Fragende! | |
| Suchen Sie die anderen Unsicheren! Im Gespräch entstehen Lösungen – | |
| vielleicht. | |
| Der Joachim sagt nun Tschau und wünscht Ihnen – Mitbürgern, Erdenbürgern, | |
| Kindern, Rentnern, Ossis, Wessis, Flüchtlingen und Reichsbürgern – ein | |
| besinnliches Fest. Auf dass Sie nie wieder von mir hören. | |
| P.S. Ja, der Weihnachtsbaum ist eine Lärche. Das habe ich mir zum Abschied | |
| gewünscht. Endlos wiederverwendbar – ohne Plaste. Zuhause darf ich das | |
| nicht haben. Meine Frau… | |
| P.P.S. Zum Abschied habe ich zusammen mit meinen – vom Mindestlohn | |
| ausgenommenen – Praktikanten ein kleines Gedicht für Sie vorbereitet: | |
| Dem Menschen prophetisch ward gewahr | |
| Auferstehung & ewiges Leben immerdar! | |
| Hoffentlich nicht! Sonst begegnen wir all den im Mittelmeer (unter der | |
| Beobachtung der Frontex) ertrunkenen Flüchtlingen. | |
| Die zerfetzten Kinder aus Aleppo würden uns fragen, wer die Fass- Bomben | |
| auf ihre Häuser geworfen hat. | |
| Und? | |
| Die Fratzen der Globalisierung, visualisiert an den zerquetschten | |
| Näherinnen aus Bangladesch, grinsen uns an. | |
| Und nun? In Sack & Asche weiterleben? | |
| Entgegen mancher Dogmen: Leben heißt nicht Entbehrung! | |
| Sozialität ein Manifest. | |
| Und im Glauben „soll jeder nach seiner Fasson selig werden“. | |
| Auch darf der Mensch feste Feste feiern – gut Essen und gut Trinken. | |
| Drum schlagt euch die Hucke voll und besauft euch! In vino veritas. Dann | |
| seid ihr wenigstens wieder ehrlich miteinander. | |
| Zusammenstellung: Lea Wagner | |
| 25 Dec 2016 | |
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