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# taz.de -- Von WG zu WG am Silvesterabend und Neujahrsimpressionen vom Tempelh…
Ausgehen und Rumstehen
von Natalie Mayroth
In Stadtteilen wie Neukölln beginnt Silvester, gemessen am Geräuschpegel,
etwas früher. Die ersten Kracher knallen schon Tage davor los, hinterlassen
ein unwohles Gefühl und zerfetzte Pappreste. Um mit dieser Neuköllner
Tradition nicht ganz zu brechen, wurde sich bei uns mit einer Limette am
Longdrinkglas, ehe es zwölf wurde, schon zugeprostet und an die Glückskekse
gemacht. Dann auf die Straße. Von WG zu WG. Vom Körnerpark in die ein
bisschen nördlicher liegende Rollbergsiedlung und wieder rein ins Warme,
weg vom Krachen auf der Straße. In der Küche begrüßen mich am Kühlschrank
haftende Wortmagneten: wild schaukeln, Sonne gurgeln und lustig tanzen und
auch der schöne „Du bist Deutschland“-Aufkleber mit Herrn Ewert im
Nationaltrikot und ausgestreckter Hand. Doch er ist in guter Gesellschaft,
neben ihm ist es blau: Ein Sea-Watch und einen Sticker „von der EU
gefördert“ entdecke ich auch.
Im Wohnzimmer sitzen wir zu vierzehnt an drei Tischen, als der vorletzte
Gang angerichtet wird: Ratatouille mit Kürbisspaghetti isst man in der
Kopfstraße. Es ist halb zwölf. Als die Teller leer sind, gehen wir auf die
Terrasse. Von Beton eingesäumt scheinen die vielen Feuerwerkskörper, die im
Himmel zerspringen, weit genug weg, um sie genießen zu können, ohne sie am
eigenen Leib spüren zu müssen. Zwölf Uhr. Sekt, Prost, Umarmung,
Glückwünsche, die mit Tiramisu versüßt werden. Das lässt sich aushalten.
Noch eine halbe Stunde, dann ziehe ich weiter. An den Häusern, an denen ich
vorbeilaufe, blinkt noch die Weihnachtsdekoration. Der erste Mann, der mir
begegnet, grüßt mich freundlich und zündet die nächste Rakete an.
In der U-Bahn-Station Karl-Marx-Straße fällt mein Blick auf drei
Jugendliche in Adidas-Jogginghosen, rauchend, mit einer Box in der Hand,
aus der Techno pocht. Sonst ist der Bahnsteig fast wie leergefegt. Das
ändert sich. In der Bahn zum Hermannplatz wird es immer voller. Als ich
Richtung Stadtmitte umsteige, trete ich in Konfetti und rot glänzende
Herzchen, die auf dem Boden liegen. Doch der Weg ist nicht das Ziel. Hinter
einer Betonfassade des DDR-Plattenbaus an der Leipziger Straße wartet eine
nicht ganz legale Abrissparty. Es war einmal ein Künstleratelier, heißt es:
zwei Räume, dreißig Menschen, türkisches Antipasti und Rotkäppchen.
Silberne und goldene Heliumballons schmücken die Decke des abgedunkelten
Disco-Floors. Es laufen Hits aus Zeiten, als man noch CDs brannte, darunter
Amerie mit „1 Thing“ oder Madonnas „Material Girl“.
Die Hauptverkehrsstraße scheint weit weg und auch die Meldung, die mich aus
dem Tanzen bringt: Attentat in Istanbul. Der letzte Tag im westlichen
Kulturraum, wie Silvester auch genannt wird. Ironischerweise hat diese
Umschreibung irgendwie Sinn. Eigentlich wollte ich nur nachsehen, wer mir
geschrieben hat. Ich stehe in einem Kreis von Menschen, meinen O-Saft in
der Hand. Die meisten scheinen nichts mitbekommen zu haben, sie tanzen
weiter; was sollten sie auch tun.
Der erste im neuen Jahr ist ein stiller Tag in Neukölln. Die Straße – eine
Mischung als Teer, Schnee und Glasscherben – glitzert im Licht. Der
Kehricht wartet in den Ecken auf die Müllabfuhr. Vereinzelt zischen noch
aus mancher Ecke Funken. Wie kurz die Tage im Januar sind, fällt auf, wenn
das Tempelhofer Feld schon um 17 Uhr statt um 22 Uhr schließt. Auf dem Feld
donnert es, doch es ist keine Wolke zu sehen. Wie es wohl den Menschen auf
der anderen Seite des Feldes in der Nacht erging? Vielleicht wären sie gern
geflohen, nach Sankt Peter-Ording oder Sylt, wo es nachts still ist, weil
da das Geballer verboten ist.
3 Jan 2017
## AUTOREN
Natalie Mayroth
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