# taz.de -- Eine gerechtere Form des Kapitalismus | |
> ESSAY Wie eine Energiewende mit Respekt für die Bürger unsere Demokratie | |
> stärkt | |
Arne Jungjohann, Craig Morris | |
Die Energiewende hat mit Protesten in den 1970er Jahren angefangen, als | |
viele Menschen gesagt haben, es läuft einiges schief und wir müssen etwas | |
dagegen machen. Wer aber für eine Partei wie die AfD, einen Kandidaten wie | |
Donald Trump oder den Brexit stimmt, der hat den Glauben daran aufgegeben, | |
Veränderungen innerhalb des Systems erreichen zu können. Man wählt das | |
komplette Establishment ab. | |
Der Blick über unsere Grenzen hinaus zeigt, dass in den USA und in England | |
eher ländliche Gebiete gegen das Establishment gewählt haben; in | |
prosperierenden Städten wie London City, Manhattan und San Francisco haben | |
die Populisten dagegen kaum punkten können. Biogaskraftwerke, Solaranlagen | |
und Windturbinen werden aber vorwiegend im ländlichen Raum gebaut. | |
Ländliche Kommunen sind hierzulande schon lange die treibende Kraft der | |
deutschen Energiewende. | |
Der Sozialwissenschaftler und Bürgerrechtsaktivist George Lakey hat | |
untersucht, was die USA von Skandinavien lernen können, um eine Versöhnung | |
zu erreichen. Die Skandinavier seien in den 1920er und 1930er Jahren noch | |
stärker polarisiert gewesen, als die USA es heute sind. Lakey hat vier | |
Faktoren identifiziert, die die Skandinavier wieder versöhnt haben: | |
genossenschaftliche Modelle, ein breiter Konsens, Mitspracherecht in | |
Verbindung mit Identifikation und eine Strategie der Gewaltlosigkeit. So | |
lässt sich auch die Energiewende in Bürgerhand beschreiben. | |
## Genossenschaftliche Modelle | |
In den letzten zehn Jahren hat Deutschland einen regelrechten Boom bei | |
Energiegenossenschaften erlebt. Es macht einen Unterschied, ob ein an der | |
Börse gelistetes Unternehmen oder eine lokale Firma zusammen mit Bürgern | |
ein Projekt entwickelt. Im ersten Fall fließen die Gewinne aus der Gemeinde | |
an Investoren, die jederzeit ihre Aktien verkaufen können. Das französische | |
Wort für „Aktiengesellschaft“ beschreibt den Sachverhalt treffend: sociét… | |
anonyme – anonyme Gesellschaft. AGs bedeuten das Gegenteil des deutschen | |
Prinzips „Eigentum verpflichtet“. Und große Konzerne haben gute Anwälte, … | |
wenig Steuern zahlen zu müssen. Das Geld fließt also aus der Gemeinde ab, | |
die Profite werden als Dividenden an Aktienhalter ausgezahlt, die für | |
nichts haften. | |
Genossenschaften hingegen zahlen ihre Gewinne entweder direkt an ihre | |
Mitglieder in der Gemeinde aus oder investieren die Gewinne direkt wieder | |
vor Ort. Und in einer Genossenschaft hat jeder nur eine Stimme, egal wie | |
viele Anteile er besitzt – wie in einer Demokratie. Die Bürgerbewegung | |
hinter der Energiewende praktiziert also schon lange eine gerechtere Form | |
des Kapitalismus, in der kleinere Firmen, Familienunternehmen und | |
Mittelständler eine tragende Rolle spielen und langfristig handeln, statt | |
nur an den nächsten Quartalsbericht zu denken. | |
Laut einer Pew-Umfrage von 2015 sind in den USA lediglich 12 Prozent der | |
Wähler, die sich als konservativ bezeichnen, über den Klimawandel besorgt. | |
In Australien sind es immerhin 31 Prozent, im Vereinigten Königreich 39 | |
Prozent und in Kanada 45 Prozent. In Deutschland liegt die Zahl bei 51 | |
Prozent – nicht genug, aber vorne in dieser Liste. | |
In Deutschland setzen sich nicht nur Politiker der Grünen für Klima- und | |
Umweltschutz ein. Der CSU-Politiker Josef Göppel hat den Dachverband der | |
Bürgerenergiegenossenschaften mit ins Leben gerufen. Mehr als 2.000 Kirchen | |
in Deutschland hatten bereits 2014 ein Solardach. Und unter anderem | |
Kirchenvertreter waren es auch, die 2007 die Klima-Allianz gründeten, um | |
gegen die 37 damals geplanten neuen Kohlekraftwerke zu protestieren. Mit | |
Erfolg: Fast alle Projekte wurden blockiert oder aufgegeben. | |
Ländliche Kommunen sind oft konservativ. Die Graswurzelbewegung hinter der | |
Energiewende begann 1974 im südbadischen Kaiserstuhl – CDU-Land. Auch die | |
Stromrebellen von Schönau waren vorwiegend CDU-Wähler – und achteten | |
darauf, sich nicht von den Grünen vereinnahmen zu lassen. Im Ergebnis haben | |
Konservative die Energiewende angeschoben. Das legt den Schluss nahe, dass | |
Bürgerprojekte bestens dazu geeignet sind, links und rechts in der | |
Klimafrage zusammenzubringen. | |
Außer Deutschland hat wohl nur Dänemark eine Energie- und Klimapolitik, die | |
als Graswurzelbewegung begann. Aber nur Deutschland hat eine Energiepolitik | |
mit einem Brading: Energiewende. | |
Was macht das aus? In der Wirtschaftswissenschaft steht der Homo | |
oeconomicus für das rationale Verhalten von Menschen, den eigenen Nutzen zu | |
maximieren. Die Theorie erklärt nicht, warum die benachteiligte Klasse für | |
einen Milliardär stimmt, der ihnen die staatliche Fürsorge kürzen wird. | |
Nach Trumps Sieg sprechen viele Beobachter deshalb von identity politics. | |
Die Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Wehling erklärt, dass die Menschen | |
nicht primär nach dem eigenen Geldbeutel, sondern nach Werten wählen. Es | |
hilft also ungemein, dass sich hierzulande die meisten mit dem Atomausstieg | |
und erneuerbaren Energien in Bürgerhand identifizieren können. Im Ausland | |
dagegen schlendern viele Regierungen ziellos in der Energiepolitik umher. | |
Mitsprache bedeutet außerdem etwas anderes als bloße Investitionsoptionen. | |
Um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen, verpflichtet Dänemark | |
neuerdings die Energieversorger dazu, ein Fünftel eines geplanten Windparks | |
den Bürgern vor Ort anzubieten. Im Ergebnis ist allerdings kein | |
nennenswerter Anstieg der Akzeptanz festzustellen. Das ist kein Wunder, | |
denn die Verkaufsmasche lautet: Gefällt Ihnen unser Produkt nicht, können | |
Sie es kaufen! Die Bürger wollen nicht vor vollendete Tatsachen gestellt | |
werden, sondern bereits in der Entwurfsphase beteiligt sein – egal ob sie | |
Anteile kaufen oder nicht. | |
Mitsprache findet übrigens bereits statt, wenn ein Bürgerprojekt einen | |
Antrag auf eine Baugenehmigung stellt. Anstatt in der Filterblase der | |
sozialen Netzwerke zu sitzen, setzen sich die Bürger mit dem System | |
auseinander: Sie informieren sich im Rathaus und nutzen Regeln für sich, um | |
einen Bauantrag einzureichen. Wer das System erfolgreich nutzt, wählt am | |
Ende des Tages kaum diejenigen, die es überwerfen wollen. Und schon vor dem | |
Antrag haben sich diese Bürger mit Nachbarn zusammengetan, um zu planen. | |
Dabei schaffen sie eine Gemeinschaft. | |
Gewaltlosigkeit war bereits 1974 bei den Protesten im Kaiserstuhl ein | |
festes Prinzip, als die Energiewende-Bürgerbewegung begann. Zwar wackelte | |
das Prinzip immer wieder, wie spätere Proteste in Brokdorf und anderswo | |
zeigten. Und doch liegen die letzten Gewaltkonflikte Jahrzehnte zurück. In | |
den USA protestieren Native Americans heute gegen die Dakota-Pipeline – und | |
werden mit Gewalt konfrontiert. Heute begegnen sich deutsche Bürger und | |
Energieexperten eher mit Respekt. | |
## Respekt statt Gewalt | |
Die deutsche Energiepolitik wird nicht mehr auf der Straße ausgefochten. | |
Stattdessen stehen Gesetzentwürfe online zur öffentlichen Kommentierung | |
bereit. Im Ausland (etwa in den USA) wird die Öffentlichkeit oft aus | |
Expertenanhörungen zur Energiepolitik ausgeschlossen. In vielen | |
demokratischen Ländern wird den Bürgern noch jegliche Kompetenz dafür | |
abgesprochen, in der Energiepolitik überhaupt mitzureden. In der | |
Energiewende haben die Deutschen mit der Zeit gelernt, die Meinungen | |
anderer ernst zu nehmen, anstatt anderen sofort Dummheit zu unterstellen. | |
Das müssen wir noch zwischen Pegida-Demonstranten und der von ihnen | |
verachteten Elite hinbekommen. | |
Aber so langsam, lieber Leser, kommt Ihnen unser Lob auf Deutschland | |
sicherlich suspekt vor. Die Skepsis erleben wir bei jedem Vortrag | |
hierzulande. Wir vergleichen allerdings Deutschland nicht mit einem Ideal, | |
sondern mit dem Ausland. Der Blick über den Tellerrand bestätigt unsere | |
positive Einschätzung. | |
Die Energiewende schöpft also aus den gleichen vier Quellen der Versöhnung, | |
die der US-Experte Lakey für Skandinavien identifiziert hat. Bürgerenergie | |
ist daher mehr als Klimaschutz. Sie bietet gerade der Bevölkerung im | |
ländlichen Raum, die von der Globalisierung am wenigsten hat, gute Optionen | |
für Mitsprache und Teilnahme an der Gesellschaft. Alles in allem hat die | |
Energiewende die deutsche Demokratie in den letzten Jahrzehnten gestärkt. | |
Kein Geringerer als US-Präsident Barack Obama sagte bei seinem | |
Abschiedsbesuch in Berlin: „Wenn Sie eine friedliche, dynamische | |
Gesellschaft schaffen wollen, dann sehen Sie sich Deutschland an.“ | |
3 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Arne Jungjohann | |
Craig Morris | |
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