# taz.de -- Berliner Szenen: Schmerzhafte Türen | |
> Schuldig und krank | |
Wir gehen „einmal ums Karree“, und ich freue mich über das schöne Wort aus | |
meiner Kindheit. Ein Mann spricht mich von hinten an, ich solle beim | |
nächsten Mal die Glastür zum Durchgang zumachen, wenn ich den Kindergarten | |
verlasse. Ich neige dazu, mich schuldig zu fühlen, wenn mich jemand | |
beschuldigt. Ich war aber gar nicht im Kindergarten, er hat mich | |
verwechselt, vielleicht weil ich meinen Sohn dabeihabe und sein Laufrad | |
trage. (Meistens muss ich es tragen, weil er immer gleich die Lust | |
verliert.) | |
Wir gehen zum Friseur, ich will einen Termin machen, auch wenn ich das Geld | |
lieber sparen würde, aber mit kurzen Haaren spare ich vielleicht Shampoo. | |
Wir kommen am Kinderfriseur vorbei, der teurer ist als mein Friseur, aber | |
dafür gibt es dort Spielzeug und eine Kreidetafel. In meiner rechten | |
Schulter ist ein Nerv entzündet, es tut höllisch weh, wenn ich eine Tür | |
zuziehe und wenn ich mir den Po abwische. | |
Wir kommen am Buchladen vorbei, und ich muss ein Pixie-Buch aus der öden | |
Connie-Reihe kaufen. An der Kasse liegt der neue Knausgard, Juli Zeh | |
behauptet auf der Rückseite „Gehört zum Besten an Literatur, was derzeit | |
geschrieben wird“. Auf dem Cover sieht Knausgard beneidenswert männlich | |
aus, volles Reinhold-Messner-Haar, Zigarette im Mund. Ich kann nicht sagen, | |
was das Beste an Literatur ist, was zur Zeit geschrieben wird, ich schaffe | |
nur vier bis sechs Bücher im Monat. Auf unserem Treppenabsatz liegt ein | |
Buch über Goya zum Verschenken, früher hätte ich es mitgenommen, jetzt | |
fehlt mir der Platz. „Lady Chatterleys Liebhaber“ will auch keiner, daraus | |
haben wir uns bei der Konfirmandenfahrt schweinische Stellen vorgelesen. | |
Nachhausekommen ist besser, weil meine Schulter beim Türaufdrücken nicht | |
so wehtut wie beim Türzuziehen. | |
Jochen Schmidt | |
11 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Jochen Schmidt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |