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# taz.de -- Alle Lust will Ewigkeit
> Literatur Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr lässt in
> „Cox oder Der Lauf der Zeit“ einen Uhrmacher am Hof des Kaisers von China
> seine Kunst entfalten. Kunstvoll ist auch die Sprache geraten
Bild: Ein jedes Ding hat seine Zeit: Beim Uhrmacher Alister Cox soll das auch f…
Von Jörg Magenau
Jedes Kind weiß aus eigener Erfahrung, dass die Zeit in unterschiedlichem
Tempo vergeht. Zäh schleppt sie sich während einer Schulstunde dahin, um
während der Pausen zu verfliegen; endlos die Stunden der Erwartung vor
einem Fest, das, endlich erreicht, in null Komma nichts vorüber ist. Dabei
messen die Uhren (und welches Kind wünscht sich keine Uhr!) immer dieselbe
Zeit: unbestechlich und unerbittlich. Wie doch die Zeit vergeht! Doch um
unser persönliches Empfinden kümmert sie sich kein bisschen.
Aus diesem Zwiespalt von subjektivem Erleben und objektivem Erfassen, von
genauer Empfindung und technischer Messbarkeit der Weltzeit entwickelt
Christoph Ransmayr seinen Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“. Der Uhrmacher
Alister Cox (der auf ein reales historisches Vorbild, den Apparatemacher
James Cox zurückgeht) soll im Jahr 1753 für den chinesischen Kaiser in der
Verbotenen Stadt ganz besondere Uhren bauen, Uhren, die das Paradox
vollbringen, das subjektive Erleben zu messen.
## Mechanische Spielereien
Cox und seine Gehilfen beginnen, dem Wunsch des Kaisers gemäß, mit einer
Uhr für die Kinderzeit. Dafür denkt er sich das Modell eines Segelschiffes
aus, dessen Uhrwerk nur dann läuft, wenn eine frische Brise aufkommt. So
bleibt die Zeit mal stehen, mal geht sie stürmisch voran. Das gilt auch für
die Uhr, die die letzten Stunden im Leben eines zum Tode Verurteilten
abbilden soll und die sich aus der Energie von Rauch und Feuer speist.
Aber das sind nur Vorübungen, hübsche mechanische Spielereien für kindliche
Gemüter und kostbare Schmuckstücke, die jedoch in den Staub der
Bedeutungslosigkeit sinken vor der letzten, der absoluten Uhr: ein
Perpetuum mobile, das wie ein Barometer vom ständig wechselnden Luftdruck
angetrieben wird und sich so „aus der Zeit selbst in die Ewigkeit hinaus zu
drehen vermochte wie ein Insekt aus der Fessel seines Kokons“. Dass aber
auch das nur eine Spielerei sein kann, weil diese Uhr, auch wenn sie endlos
laufen wird, nicht die Ewigkeit zu fassen bekommen kann, da Ewigkeit
definitionsgemäß nicht in die Zeit fällt und deshalb auch nicht messbar
ist, scheint erst einmal keinem der Beteiligten aufzufallen.
Der Kaiser, der sich auch „Herr der zehntausend Jahre“ nennen lässt,
besitzt bereits eine enorme Uhrensammlung, mit der er seiner Sehnsucht
nachgibt, nicht nur die Gegenwart, sondern alle Zeiten zu beherrschen.
Seine Allmacht, in der er über Menschenleben mit einem Fingerschnipsen
entscheidet, ist nur durch die Vergänglichkeit bedroht, und so verbündet er
sich mit Cox, der, Künstler, Handwerker und Wissenschaftler zugleich, diese
letzte, größte Herausforderung gleich dreifach angehen will.
Christoph Ransmayr, geboren 1954 im oberösterreichischen Wels, sucht in
seinen Büchern stets die Randbezirke des Daseins. Seit seinem großen
Bestseller „Die letzte Welt“ aus dem Jahr 1988 sucht er auch (wenn auch
eher vergeblich) die Wiederholung dieses Erfolgs. Seine Romane waren stets
Expeditionen und Abenteuerreisen, führten in die Wüste, zum Nordpol und in
den Himalaya.
Das Hochgebirge erkundete er mit seinem Freund Reinhold Messner, um die
Geschichte um den tragischen Tod von dessen Bruder während einer
gemeinsamen Tour in dem Roman „Der fliegende Berg“ zu verarbeiten. „Die
letzte Welt“ führte auf der Suche nach Ovid ans Schwarze Meer in das Exil
des römischen Dichters und künstlerischen Antipoden des großen Kaisers und
Diktators Augustus. Die Verwandlung von Geschichte in Fiktion und die Lust
an Mythischem als überzeitlich Gültigem hat er damals schon beherrscht.
Daran knüpft er jetzt an; auch „Cox“ ist reine Fiktion, historische
Erfindung.
Auch die Konstellation von Kaiser und Künstler greift er nun wieder auf.
Doch der chinesische Kaiser ist im Gegensatz zum römischen selbst ein
Künstler, der die Morgenstunden nutzt, um Gedichte zu schreiben. Seiner
Grausamkeit als kindlicher Herrscher tut das keinen Abbruch. Ransmayr
schwelgt geradezu in Gewaltfantasien, wenn er in allen Details ausmalt, wie
zwei besorgte Ärzte, die an der Heilkunst eines vom Kaiser bevorzugten
tibetischen Schamanen zu zweifeln wagten, buchstäblich filetiert werden,
bis sie sich als blutende, aber immer noch lebende Skelette
gegenüberstehen.
Ransmayr ist überhaupt ein großer Beschreiber und Auspinsler sinnlicher
Eindrücke aller Art. Farben, Gerüche, Gewürze, Stoffe, Wind und Wetter,
Blut und Tränen: Alles schillert und duftet und glänzt. Man kann in seinen
Büchern ins Kino gehen, Breitwandformat, so sehr sind sie Wort für Wort und
bis in die letzten Schnörkel hinein fein ziseliert. Bei „Cox“ sieht man die
Verfilmung à la „Rote Laterne“ oder „Rotes Kornfeld“ schon vor sich. D…
sich aber um Literatur handelt, also um Sprache, geraten die Sätze immer
ein wenig zu kostbar und bewegen sich immer knapp am Rande oder schon
jenseits der Grenze zum Kitsch. Bei den Folterszenen wird diese dichte,
stilisierte Tonlage unangenehm, nicht weil es nicht erlaubt wäre, Gewalt
auszumalen, sondern weil sie wie alle Figuren, Szenen und Bilder in diesem
Roman den Eindruck vermitteln, nur um des Effektes willen erzählt zu
werden.
Man kann diese Opulenz mögen, man kann sich aber auch überfressen an Sätze
wie diesem: „Als die Flotte bei böigem Wind durch einen bis an den Horizont
ausgespannten Raster unzähliger Reisfelder rauschte, als schleppte sie
einen riesigen Pflug allein mit der Kraft ihrer Segel durch fruchtbares
Land – und ein auf Fuß- und Fingerbreit exaktes Manöver eine Dschunke aus
ihrer Position weit zurückführte, fast ans Ende der Schiffsprozession,
stand ihm plötzlich dieses Mädchen gegenüber: stand an der Reling der
vorübergleitenden, zurückfallenden Dschunke, stand einfach da, die
verschränkten Arme auf einen Handlauf gestützt – und blickte ihn an.“
Dieses Mädchen aus der kaiserlichen Flotte wird – das ist unschwer zu ahnen
– zu Cox’ Schicksal. Er verliebt sich in sie, weil er in ihr seine im Alter
von fünf Jahren gestorbene, innig geliebte Tochter und zugleich auch die
über diesem Unglück verstummte Ehefrau wiedererkennt, die er in England
zurückgelassen hat. Ān heißt diese schönste und zarteste Versuchung unter
den 3.000 kaiserlichen Konkubinen, die als heimliche Hauptfigur gelten
darf.
Ransmayr hat ihr seinen Roman sogar gewidmet, als wäre sie mehr als bloß
eine Figur: Abbild des Weiblichen schlechthin, Verkörperung von Wahrheit,
Liebe und Erkenntnis. Bei einem Besuch des Kaisers in der Werkstatt der
Langnasen ist sie als Begleiterin dabei, und es kommt nicht nur zu einem
kurzen Berührung zwischen ihr und Cox, sondern auch zu einem Blick. Das ist
nur ein winziger Moment, aber Cox erfährt so, was Ewigkeit ist. Auf diesen
einen Augenblick ist das Romangeschehen zugeschnitten, im Film müssten da
Großaufnahmen in Zeitlupe ablaufen: „Er empfand, dass dieser eine
Augenblick im Angesicht des Kaisers und seiner Geliebten keiner Zeit mehr
angehörte, sondern ohne Anfang und ohne Ende war, um vieles kürzer als das
Aufleuchten eines Meteoriten und doch von der Überfülle der Ewigkeit: von
keiner Uhr zu messen, scheinbar ohne Ausdehnung wie ein Jahrmilliarden
entfernter, glimmender Punkt am Firmament.“
## Alles ist schön
So ist es also mit der Liebe. Dass sie stark genug ist, die Zeit
auszuhebeln, ist wohl wahr. Bei Ransmayr verwandelt sich das in eine
sentimentale Weltweisheit, die so banal wie tröstlich ist. Alles in diesem
Roman ist schön, auch die Grausamkeiten, auch die Wahrheiten. Man hat das
Gefühl, selbst so eine aus Silber und Edelsteinen gearbeitete Miniatur in
Händen zu halten, wie sie Meister Cox herstellt: eine aufs feinste
gearbeitete Mechanik, die abläuft wie ein Uhrwerk, die aber nur um sich
selber kreist und nichts auszudrücken vermag als ihre Schönheit und ihr
Funktionieren.
Auch die Figuren – so sehr Ransmayr sie aufhübscht und mit einer Geschichte
versieht – bleiben so leer wie seine Bilder kulissenhaft. Von China erfährt
man jenseits der kaiserlichen Welt nichts, ebenso wenig wie von der
Funktionsweise der Macht und von den Intrigen am Hofe, die es doch wohl
auch gegeben hat. Wenn einer der Gehilfen bei einem Unfall ums Leben kommt
und sein Grab unter einer Felsnadel anschließend zur Sonnenuhr mutiert,
dann ist auch das bloß ein hübscher, doch konsequenzloser Einfall.
So bleibt am Ende bei aller Bewunderung für so viel Kunstfertigkeit ein
schales Gefühl und leiser Überdruss. Dass der Kaiser schlau genug ist, die
Barometer-Ewigkeitsuhr gar nicht erst in Betrieb zu nehmen und dass Cox
dann fast schon das Interesse daran verliert, sind Nebeneffekte. Da hat man
sich auch als Leser schon abgewandt von dieser literarischen Feinmechanik
im Zuckerbäckerstil.
Christoph Ransmayr: „Cox oder Der Lauf der Zeit“. S. Fischer Verlag,
Frankfurt/Main 2016, 304 Seiten, 22 Euro
26 Oct 2016
## AUTOREN
Jörg Magenau
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