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# taz.de -- Der Briefmarken-Jäger
> Philatelie Lutz Schmurdy sucht Papierschnipsel, die ein Vermögen wert
> sind: Ein Treffen mit dem Auktionator, der die „Rote Venezuela“ nach
> Hamburg holte. Der Wert von fast allem sei heute gesunken, sagt er. Bei
> Briefmarken sei das nicht anders
Bild: Strahlt Anstand aus: Briefmarkenexperte Lutz Schmurdy im Auktionshaus Lau…
VON EVA THÖNE
Der beste Moment bei der Arbeit, sagt Lutz Schmurdy, ist immer der, wenn
die Tür aufgeht, hinter der die Dinge warten, die ein Leben zurücklässt.
Weil sich die Spannung noch ins Gute oder Schlechte auflösen kann. Wartet
auf Schmurdy Plunder? Oder unerkannte Schätze, hunderttausende Euro wert:
Briefmarkensammlungen, mühevoll gepflegt, solche bei denen handschriftlich
die Kaufdaten in die Alben notiert wurden? „Das ist kaum kalkulierbar“,
sagt Schmurdy. „Nur eins: Die Erfahrung zeigt, dass bei Nachlässen, die ich
in Reihenhäusern oder Mietwohnungen begutachte, die Sammlungen häufig
sorgfältiger zusammengestellt sind als in Villen.“
Schmurdy, 55, gelernter Einzelhandelskaufmann, arbeitet in Hamburg als
freier Auktionator. Er begutachtet und schätzt Nachlässe, besucht
Versteigerungen, bietet virtuell auf Ebay und real auf Container oder
Koffer, kauft und verkauft, seit 35 Jahren. Er kann fast alles schätzen,
sagt er, antike Möbel, Gemälde, Schmuck. Sein Spezialgebiet aber: Münzen,
und vor allem Briefmarken.
## Tausende Euros für ein Papierstückchen
Als Franz-Josef Strauß starb, fuhr Schmurdy an den Tegernsee, um die
Briefmarkensammlung der CSU-Legende zu schätzen. Schmurdy begutachtete die
Kollektion von Detlev Rohwedder – „600-qm-Villa, voll unterkellert“ –,
nachdem der Präsident der Treuhandanstalt von der RAF ermordet wurde.
Schmurdy ist auch der Mann, der die „Rote Venezuela“ zur Versteigerung nach
Hamburg brachte, einen Fehldruck aus dem Jahr 1861, der den Wert der Marke
um ein Vermögen steigert; seltener als die „Blaue Mauritius“. Schätzpreis
für die zwei Papierstückchen, je kaum größer als ein Daumennagel: 550.000
Euro, 2010 wurde eine der Einzelmarken bei einer Auktion in der Schweiz für
288.000 Euro versteigert. Über einen Kontaktmann aus der Szene hatte
Schmurdy von einem Briten gehört, dem ein Markenpaar gehörte. Anfang August
sollten die zwei Marken im Auktionshaus Lauritz versteigert werden, für das
Schmurdy ab und an arbeitet.
„Man kommt viel rum“, sagt Schmurdy. Heute sitzt er im Hamburger Haus von
Lauritz, einer Backsteinhalle in Altona: Stühle warten in Zehnerreihen auf
Kunden, Alben in Vitrinen, Sofas auf eingezogenen Riesenregalen.
Kubistisches hängt neben Pop Art und realistischer Malerei. Überall baumeln
Preisschilder, auch an dem braungrauen Lehnsessel, in dem Schmurdy erzählt
und der gut in ein einfaches dänischen Ferienhaus passt, aber 1.500 Euro
kostet, weil skandinavisches Design gerade im Trend liegt.
Es riecht nicht nach Flohmarkt, schon gar nicht nach feuchtem Kellermuff.
Trotzdem fällt Schmurdy auf – das Haar sorgsam gelegt, der Anzug in
Anthrazit, die Bewegungen sorgsam. Ein Mann, an dem alles klassischen
Anstand ausstrahlt. Um ihn herrscht Unruhe: Dauernd werden Möbel
vorbeigeschleppt, gekarrt, geschoben, hin zu der schwarzen Wand, vor der
alles fotografiert werden muss. Lauritz versteigert vor allem online alles
ab einem Wert von 100 Euro und laut Schmurdy allein über Hamburg mehr als
2.000 Stücke pro Woche. „Natürlich ist das Massenabfertigung“, sagt er.
„Aber so ist es halt heute, effizient. Der Wert von fast allem ist ja
runtergegangen.“
Auch von Briefmarken. Den Sohn, der von seinem Vater die
Briefmarkensammlung als Wertanlage erbt oder das Kind, das sich fette
Pakete mit bunten Tiermarken aus aller Welt schenken lässt, sogenannte
„Kaufhauspakete“, gibt es kaum noch. „Älter und weniger werden die
Sammler“, sagt Schmurdy. Er fuhr in seinem Berufsleben bisher geschätzt
zwei Millionen Kilometer, nur für Münzen und Briefmarken. Aber er
kalkuliert heute enger, versucht vorher zu erfragen, ob sich eine Fahrt
lohnt, wenn ein Nachlassverwalter aus Bayern oder Baden-Württemberg anruft.
Weiter macht er trotzdem. „Bis zum letzten Atemzug“, sagt er und es klingt
nicht fatalistisch, sondern danach, dass hier ein Mann sitzt, dem sein Job
Spaß macht.
Schmurdy sagt, Briefmarkensammeln ist immer noch besonders. Weil die Marken
die Weltgeschichte erzählen. Mit dem, was sich ein Land auf die Marke
druckt, erzählt es auch, was ihm wichtig ist. Die Schweiz brachte mal einen
Zehnerblock raus, die Marken rochen nach Schokolade, rieb man an ihnen.
„Ist doch toll“, sagt Schmurdy. Die Tonga-Inseln veröffentlichten mal
Briefmarken, deren Form dem Umriss des Inselstaats nachempfunden war. Immer
gut für Überraschungen, die Briefmarken, sagt Schmurdy, als spreche er über
einen alten Freund.
Wenn es nach Schmurdy ginge, würden Briefmarken als Schulfach angeboten; an
ihnen könnte man zum Beispiel erklären, warum es aus vielen afrikanischen
Ländern eine Zeit lang so viele Weltraumbriefmarken gibt, obwohl kein
Afrikaner ins All flog. „In den Sechzigern wurden viele afrikanische Länder
in die Unabhängigkeit entlassen, das Drucken war dann ein Ausdruck der
neuen Selbstverwaltung.“ Weil die neuen Postverwaltungen damit aber
überfordert waren, übernahm unter anderen die deutsche Bundesdruckerei. Und
weil Weltraummarken schon damals zu den größten Sammlerkreisen zählten,
druckte man halt besonders gerne Raketen.
## Mit Beginn des Euros hörten viele auf zu sammeln
Dass etwas mit dem Briefmarkenmarkt nicht mehr stimmte, realisierte
Schmurdy erst so richtig, als er 1988 bei einem Kunden war, für den er den
Posthornsatz schätzen sollte. Die bunte Reihe aus 16 Marken, gedruckt
Anfang der Fünfzigerjahre, ist die wertvollste Deutschlands. Anfang der
Achtziger wurde die Serie mit acht-, neuntausend Mark bewertet; jetzt
musste Schmurdy zu seinem Kunden sagen: 4.000, nicht mehr.
Davor war der Markt immer fetter geworden, zu fett. In den Fünfzigern und
Sechzigern kauften die Leute massiv Briefmarken als Wertanlage. Und die
Post druckte und druckte, lancierte neue Ausgaben, die nie auf Umschlägen
landeten. Als die Sammler dann ihre Gewinne einlösen wollten, Marken den
Markt schwemmten, gab es den Kollaps. Mit Beginn des Euro hörten viele
endgültig auf zu sammeln. „Der letzte Stoß“, sagt Schmurdy. Heute werden
die Marken aus den Sechzigern, zu einem Zehntel des Nennwerts gehandelt.
Euronominalen, also gültige Marken, kann man auf Auktionen unter dem
Ladenpreis kaufen. „Genau wie der Mittelstand in der Gesellschaft ist auch
die Mittelklasse bei den Briefmarken verschwunden.“ Nur die
High-End-Philatelerie funktioniere noch, sagt Schmurdy.
## Bei 300.000 Euro ging kein Gebot ein
Deshalb ja auch die Idee mit der „Roten Venezuela“. Schmurdy erinnerte sich
an den Hype um die „Blaue Mauritius“ in den Achtzigern, als Zeitungen noch
groß über den Wert der Seltenheit berichteten. „Das wäre doch auch schön
gewesen bei der ‚Roten Venezuela‘, vor allem, weil Südamerika-Marken als
Underdogs gelten.“ Aber bei einem Startpreis von 300.000 Euro ging kein
einziges Gebot ein, obwohl sogar ein Händler aus Kanada kam, um die Marke
anzuschauen. „Es wäre doch schön gewesen. Wenn es nochmal angeboten wird,
kann ich mir vorstellen, dass es mehr bringt. Der Markt ist noch nicht
reif“, sagt er.
Schmurdy sammelte selbst einmal, mit neun bekam er von seinem Großvater
einen Zeppelinbeleg, Post, die mit den Luftschiffen transportiert und von
oben abgeworfen wurde. Bis das erste Kind kam, baute er die Sammlung auf
6.000 Marken aus. „Dann wurde der Nachwuchs mein Hobby.“ Schmurdy
verkaufte. Er erzählt das ohne Bedauern. Vielleicht, weil seine heutige
Arbeit doch viel mit dem Sammelreiz gemein hat – nur kann er seine Beute
nicht mehr behalten.
Aber das Mitfiebern bei Auktionen, das Warten auf das richtige Stück, der
Triumph, den Mitbewerben in die Augen zu blicken und zu wissen, dass man
das Quäntchen mehr an Fachwissen besitzt, um eine Marke richtig
einzuschätzen – das alles erlebt der Sammler genauso wie der, der kauft, um
weiter zu verkaufen. Schmurdy besitzt selbst 10.000 Fachbücher. Kann die
Kunst des berühmten Markenmeisterfälschers Jean de Spérati
auseinandernehmen und einem die Tropengummierung südamerikanischer Marken
erklären, die dafür sorgt, dass Marken trotz hoher Luftfeuchtigkeit nicht
beginnen zu kleben. Er hat viel Respekt vor Leuten, die ihre Sammlung über
Jahre im Stillen aufbauen. Und sehr wenig Achtung vor solchen, die sich
ihre Sammlung ohne viel Wissen einfach zusammenkaufen, um sie vorzeigen zu
können.
Schmurdy sagt, Auktionen funktionieren am besten für Leute, die keine
Bühnen brauchen. Weil man mit seinem Wissensvorteil nicht prahlen sollte,
um ihn nicht zu verraten. Seine Triumphe feiert er dann im Inneren, für
sich. Schmurdy kocht sich nach einem besonders guten Geschäft immer etwas
Schönes. Manchmal geht er auch essen, aber nur in solche Restaurants, wo
die Speisekarte schmal ist. „Ist wie bei einer Briefmarkensammlung“, sagt
er. „Es ist immer besser, in die Tiefe zu gehen statt in die Breite.“
17 Oct 2016
## AUTOREN
Eva Thöne
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