# taz.de -- Tanz ist glattes Eis, mein Freund! | |
> FilmEs gibt viele schöne Bewegungen, mit denen man nicht von der Stelle | |
> kommt. Sie sind zu sehen in „Der Tänzer“, Premiere heute in der | |
> Volksbühne | |
Fragt der Leistungsträger den Bohemien: „Was machst du eigentlich den | |
ganzen Tag?“ Klassischer Dialogsatz im Berlin-Film, nicht erst seit „Oh | |
Boy“. Das väterliche Unverständnis gegenüber der unbedingten | |
Unproduktivität des Sohns muss auch Jean über sich ergehen lassen, „der | |
Tänzer“ im gleichnamigen Film von Christine Groß und Ute Schall. Allerdings | |
ist Jean schon 53. Und als Tänzer in dem Alter ohne festes Engagement zu | |
sein ist der Normalfall, nicht nur in Berlin. | |
Dabei macht Jean eine Menge. Er gibt Tanz- und Französischstunden, flirtet, | |
trinkt, versucht sein Glück, prügelt sich, hat Träume. Unfassbar schnell | |
fährt der etwas verrutscht elegant auftretende Held mit dem Rennrad von | |
einer Berlin-Filmstation zur nächsten, auch das eine Gleichgewichtsübung, | |
ein tänzerischer Akt und nicht schlecht für einen 53-Jährigen. Glücklos ist | |
er an der Pferderennbahn in Hoppegarten, glücklos mit einer jungen Frau im | |
Grunewald, glücklos am Spielautomaten in der Roten Rose, glücklos beim | |
Vortanzen für alte Tänzer in Schöneberg. Glücklos, aber immer grazil bringt | |
Jean andere Menschen in Bewegung. Im Handumdrehen hat er ein paar | |
pubertierende Mädchen in schlafende Schwäne verwandelt, verführt er eine | |
Automatenspielerin zum Rock-and-Roll-pas-de-deux, tanzt er aus dem | |
Fußgelenk Hunger, Elend, Liebe, Arthrose und „Luigi Nono, 1978, als er sich | |
von seinem Werk distanziert hat“. Sein Leben mag nicht allzu sorgfältig | |
choreografiert sein, aber Tanzen ist dennoch was anderes als Driften, und | |
deshalb ist „Der Tänzer“ auch ein wirklich besonderer Film unter den | |
Stationsdramen, für die sich Berlin als Lebenskunstsetting nach wie vor | |
empfiehlt. | |
Jean Chaize, in den 1990ern mit Kresnik nach Berlin gekommen, spielt den | |
Tänzer, und vieles in diesem Film wird eigenen Erfahrungen entsprechen. So | |
nämlich arbeiten die Schauspielerin Christine Groß und Ute Schall, | |
Kamerafrau bei vielen Pollesch-Abenden, die zum Filmkollektiv „hangover | |
ltd.*“ gehören: aus den vertrauten Orten, mit den Freunden, den | |
Lebensentwürfen Szenen entwickeln. Die Filmförderungen, Festivals und Kinos | |
sind mit dieser Methode und ihren situationskomischen Ergebnissen von jeher | |
überfordert. Im vorherigen Film, der großartigen Mediensatire „Das traurige | |
Leben der Gloria S.“, ging es um das Vorspielen von prekären Verhältnissen, | |
die sich von den realen prekären Lebensverhältnissen von Künstler_innen nur | |
durch ihre vermeintliche Kinotauglichkeit unterschieden. Jetzt tanzen Jean | |
Chaize und seine Filmpartnerin und Choreografin Brigitte Cuvelier das | |
Altwerden in alternativen Lebensentwürfen als eine Bewegung, die nicht von | |
A nach B führt, sondern in einen schwebenden Balanceakt auf | |
über-50-jährigen Knöcheln und Gelenken. | |
Zwei Tage, zwei Nächte und einen Morgen lang begleiten wir Jean in dieser | |
Gleichgewichtsübung. Die Menschen, denen er begegnet, sind schon eher von A | |
nach B unterwegs: Der musikalische Partner geht für ein Stipendium nach | |
Lissabon, die Automatenspielerin geht wieder arbeiten, die Frauen gehen zu | |
ihren Männern zurück. Jean bekommt dafür im Film ein großes Solo geschenkt: | |
eine vierminütige Choreografie über die vielen schönen Bewegungen, die man | |
machen kann, um nicht von der Stelle zu kommen. „Für dich gibt es überhaupt | |
nur eine Richtung: bergab!“, sagt der Vater. Jean sieht dabei aber | |
hervorragend aus. Und „Der Tänzer“ findet die Schönheit der Übergänge in | |
einer Stadt, die sich im Bewusstsein ihrer Sprunggelenke mancherorts noch | |
weigert, in einen produktiven Zustand zu wechseln. Und bevor die | |
Volksbühne, an der die Filmemacherinnen als freie Mitarbeiterinnen | |
beschäftigt sind, in einen neuen Zustand wechselt, bietet sie heute Abend | |
noch mal eine Bühne für den „Tänzer“. | |
Jan Künemund | |
Filmpremiere heute um 20.30 Uhr in der Volksbühne | |
13 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Jan Künemund | |
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