# taz.de -- Außenansicht: Leute, die zu uns kommen | |
> Für viele Esten scheint Deutschland einer der heißen Orte der | |
> Flüchtlingskrise zu sein. 500 Flüchtlinge gelten dort schon als viel | |
Jedes Mal, wenn jemand mir in Estland eine Frage stellt, in der das Wort | |
„Flüchtling“ vorkommt, muss ich tief durchatmen: Die an den Südgrenzen | |
Europas entstandene Krise hat die estnische Gesellschaft stark polarisiert. | |
Trotzdem hat das Land – anders als ursprünglich geplant – seit März 60 | |
Flüchtlinge aufgenommen. | |
Die europäische Flüchtlingskrise hatte Estland mit seinen 1,3 Millionen | |
Einwohnern zunächst fast nur in Gestalt von Nachrichten und Fotos erreicht: | |
die Einladung von Bundeskanzlerin Merkel an Flüchtlinge, die Menschenmengen | |
an den europäischen Außengrenzen, Kinder mit Tränen in den Augen, orangene | |
Rettungswesten an der Küste griechischer Inseln. Die Quotenpolitik der | |
Europäischen Union hatte Estland zunächst ablehnen wollen, sich aber dann | |
entschieden, binnen zweier Jahre 550 Flüchtlinge aufzunehmen. | |
Gleichzeitig nahm unerwartet und schockierend die Verbreitung von | |
rassistischen, ultranationalen und fremdenfeindlichen Slogans zu, vor allem | |
auf Social-Media-Kanälen. Auf einmal scheint es falsch, Anekdoten zu | |
erzählen, deren Kern eine Eigenschaft einer Nation oder Religionsgruppe | |
bildet, weil wir nicht denen ähneln wollen, die auf ihren Wagen ohne Scham | |
einen Aufkleber „Das hier ist nicht Afrika“ haben. | |
Journalist(inn)en, die wagten, sich in Artikeln solidarisch mit | |
Flüchtlingen zu zeigen, bekamen gemeine Hassmails. Dieses Bild von Estland | |
ist natürlich nur die eine Seite. Aber die Gesellschaft muss sich damit | |
auseinandersetzen, weil die Flüchtlingsfrage nicht in der nächsten Zukunft | |
gelöst werden wird und Migration unvermeidlich ist. | |
In den letzten 25 Jahren, also seit der Wiedererlangung der | |
Selbstständigkeit, war die estnische Asylpolitik sehr konservativ: In dem | |
gesamten Zeitraum hat Estland etwa 500 Personen Asyl gewährt. Hauptsächlich | |
waren wir mit dem Aufbau der Gesellschaft beschäftigt, die skandinavischen | |
Länder dienten uns als Vorbild. Weder der estnische Staat noch seine Bürger | |
haben große Erfahrungen damit, Ausländer zu integrieren. Der Hidschab fehlt | |
im Straßenbild. | |
Natürlich gibt es Gesetze für Asylsuchende, internationale Abkommen und | |
Systeme wie den verbindlichen Sprachunterricht oder staatliche | |
Unterstützung bei der Zahlung einer Mietwohnung. Aber dass Menschen Hilfe | |
von uns erbitten , deren Sprache und Kultur sich sehr stark von unserem | |
unterscheidet, kommt für uns unerwartet. Wir haben noch keine Lehrbücher | |
für Flüchtlinge oder keine Vorstellung, wie Arabisch sprechende Kinder im | |
Kindergarten zurechtkommen. | |
Dafür hatte Estland mit einer Migration anderer Art zu kämpfen. 50 Jahre | |
hatte die Sowjetunion das Land okkupiert, die im Zweiten Weltkrieg auf die | |
deutschen Besatzer gefolgt war. Von 1959 bis 1989 wurden sehr viele Russen, | |
Belorussen und Ukrainer nach Estland umgesiedelt. Im Laufe von 40 Jahren | |
fiel dadurch der Anteil von Esten in der Bevölkerung von 75 auf 61 Prozent. | |
Auch heute noch hat jeder vierte Einwohner Estlands eine russische | |
Staatsbürgerschaft. | |
Die Unabhängigkeit Estlands hat ein großer Teil der Russen wie einen | |
Schicksalsschlag empfunden. Viele möchten Estnisch gar nicht erlernen und | |
sind nicht integriert. Den Rückgang des Anteils von Esten und die | |
Integrationsprobleme nutzen die Immigrationsgegner als Argumente: Wie | |
erzählen wir Syrern etwas übers Integrieren, wenn wir das in 25 Jahren mit | |
unseren Landsleuten nicht erreicht haben? | |
Als meine Familie erfuhr, dass ich für einen Monat nach Deutschland gehe, | |
hat sie mir gratuliert – und mich zugleich gewarnt: Ich solle mich auf | |
jeden Fall vor großen Menschenansammlungen hüten. Für den Fall, das jemand | |
einen Terroranschlag verübt. Meine Angehörigen sind alarmiert durch die | |
Fotos von brennenden Flüchtlingsheimen in Deutschland ebenso wie durch die | |
Nachricht von dem Macheten-Anschlag in einem Zug und den Belästigungen in | |
Köln. Dabei waren alle Bremer Zwischenfälle, von denen ich in den | |
vergangenen zwei Wochen gehört habe, gegen die Minderheiten gerichtet | |
gewesen, nicht umgekehrt. | |
Als Merkel öffentlich alle willkommen geheißen hat, die vor den Schrecken | |
des Krieges fliehen, hat ein Teil der Esten das für Irrsinn gehalten. | |
Andere haben Merkel für ihre Solidarität und ihren Mut gelobt. Zugleich | |
waren die Signale, wie Estland selbst mit dem Thema umgehen solle, völlig | |
gegenläufig: Einerseits hatten die Politiker angekündigt, sich einer | |
EU-Quote zu widersetzen, später haben sie verstanden, dass Solidarität | |
notwendig ist, für den Zusammenhalt der EU. In jeder estnischen Stadt sieht | |
man Schilder auf Objekten, die mit EU-Unterstützung errichtet worden sind. | |
Das heißt, dass wir uns in schweren Zeiten nicht einfach zurückziehen | |
dürfen. | |
Weil den Esten Deutschland einer der heißesten Orte der Flüchtlingskrise zu | |
sein scheint, habe ich Kommentare von denjenigen eingeholt, die mit der | |
Bewältigung der Krise zu tun hatten. „In dynamischen Situationen wissen | |
auch die Politiker nicht, wie die Situationen sich weiter entwickeln | |
können“, erklärt mir Bernd Schneider, Sprecher der Bremer Sozialsenatorin | |
Anja Stahmann (Grüne). Die Medien, die nach der Journalismuslogik Extreme | |
lieben, würden nicht immer der Gesellschaft helfen, die Prozesse zu | |
verstehen: „Die Medien sind oft schwarz oder weiß, es gibt dort manchmal | |
keine Grautöne. Aber Grau müsste es mehr geben.“ | |
Im Frühjahr habe ich von meiner Friseurin eine schöne Geschichte gehört. | |
Eine syrische Familie ging zur Kindergartenabschlussfeier ihres Kindes, | |
obwohl ihr Kind nur sehr kurze Zeit den Kindergarten besucht hatte. Der | |
Familienvater stand da auf, stellte sich und seine Frau vor – und das in | |
der schönen estnischen Sprache. Alle Herzen schmolzen dahin. | |
Ja, auch ich erzähle in Schwarz-Weiß … Aber wenn ich diese Geschichte | |
erzähle, bin ich stolz – stolz darauf, dass die estnische Gesellschaft | |
Fortschritte macht. Greete Palmiste | |
Die Autorin ist Journalistin beim Estonian Public Broadcasting in Tallinn. | |
Im Zuge des JournalistInnenaustausch-Programms „Nahaufnahme“ des | |
Goethe-Instituts arbeitet sie bei der taz.bremen. | |
1 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Greete Palmiste | |
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