# taz.de -- Rechnen lernt man auch im Wald | |
> SCHULE Seit diesem Schuljahr gibt es an der Zehlendorfer Conrad-Schule im | |
> Glienicker Park die erste öffentliche Waldklasse Berlins. Ein | |
> Schwerpunkt: die Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem | |
> Förderbedarf. Das Pilotprojekt soll ausgebaut werden | |
Bild: Unterwegs im Wald: die Kinder der Waldklasse im Glienicker Park | |
von Viola Blomberg | |
Florian* kniet neben einem dicken Baumstamm, der auf dem Waldboden liegt. | |
In der einen Hand hält der Zweitklässler eine Becherlupe aus Plastik, in | |
der anderen ein Tierbestimmungsbuch. Gleich unter der Rinde des toten Baums | |
das erste Fundstück: „ein rot-brauner Hundertfüßler!“ | |
Ein Dienstagmorgen im Glienicker Park, kurz vor der Stadtgrenze zu | |
Brandenburg: Florian und die fünf KlassenkameradInnen, die neugierig das | |
Tierchen in seinem Becher bestaunen, sind nicht mal eben für eine kurze | |
Exkursion in dem Landschaftspark im äußersten Südwesten der Stadt | |
unterwegs. Sie sind Teil der Waldklasse der Zehlendorfer Conrad-Schule, die | |
es seit diesem Schuljahr gibt – und bei der nicht nur Sachkunde oder Bio | |
draußen stattfinden, sondern auch Mathe und Deutsch. Etwa drei Stunden sind | |
die Kinder jeden Tag vormittags im Wald unterwegs. | |
Die Waldklasse ist eine Kooperation der öffentlichen Conrad-Schule mit dem | |
gemeinnützigen Träger Naturkulturgut Jägerhof. 26 Kinder aus den | |
Jahrgangsstufen eins bis drei gehören zu dieser ersten Pilotklasse – | |
darunter acht Kinder mit besonderem Förderbedarf. | |
Das ist nicht wenig: Normalerweise liegt die Quote der Inklusionskinder bei | |
zwei bis drei pro Klasse. Aber hier mache der Lernort Wald eben mehr | |
möglich, sagt Birgit Weichert, die das Waldklassenkonzept mit entwickelt | |
hat. | |
## Mathe im Wald | |
Zum Beispiel Florian, der ein wenig zappelig ist, deshalb in seiner vorigen | |
Schule aneckte und den Förderbedarf Lernen hat: „Die Freiheit, sich in der | |
unmittelbaren Natur zu bewegen macht die Kinder gelassener“, sagt Weichert. | |
„Drinnen ist es manchmal mühsam, die Kinder zu motivieren. Aber hier | |
draußen, in dieser entspannten Umgebung sind die Kinder viel | |
konzentrierter.“ Allerdings sind es auch nur die „leichteren“ | |
Förderbedarfe, die die Waldklasse aufgenommen hat: Körperlich oder geistig | |
schwerbehindert ist keines der acht Inklusionskinder, die hier gemeinsam | |
mit den Kindern ohne Förderbedarf lernen. | |
Schulbeginn ist jeden Morgen um acht Uhr im Jägerhof, einem | |
denkmalgeschützten Gebäudeensemble. Dort hat die Stiftung einen Klassenraum | |
eingerichtet. Der Unterricht findet nach den Grundsätzen der | |
Montessoripädagogik statt: viel Projektunterricht, viel freies Lernen, | |
fächerübergreifender Unterricht. Trotzdem gilt natürlich auch für die | |
Waldklasse der Rahmenlehrplan – aber rechnen, malen, lesen und singen kann | |
man schließlich auch im Wald. | |
Neben den üblichen Regelfächern schließt der Unterricht in der Waldklasse | |
zwei neue Fächer ein, die „gleichberechtigt neben den anderen Fächern auf | |
dem Zeugnis erscheinen“, wie Anne Tlach, Geschäftsführerin der | |
Jägerhof-Stiftung betont. In„Kultur und Lebenskompetenz“ sollen die Kinder | |
„lebenspraktische Tätigkeiten“ wie kochen, sägen, bohren oder Handarbeiten | |
lernen. In „Natürliche Lernräume“ geht es darum, dass die Kinder raus geh… | |
und sich mit der Umwelt auseinandersetzen. | |
Letzteres steht nun auch bei Florian und den anderen auf dem Programm. | |
Während der sechsjährige Jakob neben der Lehmwerkstatt ein Loch buddelt, | |
schleift Emilia einen riesigen Ast durch den Wald. Einige Meter von der | |
Lehmwerkstatt entfernt, wartet Erzieher-Praktikant Thore Krietemeyer auf | |
das sechsjährige Mädchen: Er baut mit den Kindern an einer | |
Holzkonstruktion. Dafür haben sie einen handbreiten Graben im Boden | |
ausgehoben und mit geflochtenen Stöcken befüllt. Kniehoch soll das | |
kreisförmige Gebilde mal werden. Zum Schluss soll der Stockkreis noch mit | |
Lehm aus der nahen Lehmgrube befestigt werden. „Das wird dann unser eigener | |
windgeschützter Gesprächskreis“, erzählt Krietemeyer, während er mit den | |
Kindern Äste von einem toten Baum absägt. | |
## Handicap und hochbegabt | |
In der Waldklasse werden derzeit 13 Erstklässler betreut. Die Zweit- und | |
Drittklässler sind aus anderen Schulen dorthin gewechselt. „Wir haben | |
ziemlich gute Erfahrungen mit dem jahrgangsübergreifenden Lernen gemacht“, | |
erzählt Schulleiter Hans-Gerrit Plessen. Die relativ große Altersspanne in | |
der Klasse, dazu noch die hohe Zahl der Inklusionskinder: eine ziemliche | |
Herausforderung an den Unterricht? | |
Im Gegenteil, sie mache Inklusion sogar einfacher, betont Plessen. Seine | |
Erfahrung sei: „Je vielfältiger die Gruppe, desto leichter fällt es, sowohl | |
Kinder mit Handicap als auch Kinder mit Hochbegabung zu integrieren.“ | |
Ab dem nächsten Schuljahr sei auch eine Klasse für die Jahrgänge vier, fünf | |
und sechs geplant, sagt Plessen. Das Interesse seitens der Eltern dafür sei | |
da, sagt der Schulleiter, das habe man bei den Anmeldungen im letzten Jahr | |
gemerkt. Dann wäre die Waldklasse tatsächlich bald eine Waldgrundschule – | |
und damit ein Novum in der Berliner Schullandschaft. | |
Denn während es bereits eine Handvoll Waldschulen in freier Trägerschaft | |
gibt – etwa die Montessorischule in Heiligensee oder die Freie Naturschule | |
im StadtGut im Pankower Ortsteil Blankenfelde – wäre die Waldschule im | |
Glienicker Park eine ganz normale öffentliche Schule, quasi eine | |
Außenstelle der Conrad-Schule. Den Hortbetrieb übernimmt die | |
Jägerhof-Stiftung, die auch das Gebäude stellt. Elternbeiträge, wie an den | |
meisten freien Schulen üblich, weil sie nur einen Teil der Personalkosten | |
vom Land ersetzt bekommen, wird für die Waldklasse deshalb auch nicht | |
fällig. „Im staatlichen Schulsystem ist doch manchmal mehr möglich, als man | |
denkt“, sagt Plessen einen Satz, den Schulleiter eigentlich nicht so häufig | |
sagen. | |
Weil die Waldklasse nicht nur für die Kinder aus der unmittelbaren | |
Nachbarschaft ein Angebot sein soll, hat man zudem die | |
Einzugsgebietsregelung für diese Schule aufgehoben. „Allerdings haben | |
Kinder mit Inklusionsbedarf Vorrang und auch solche, die aus einer Waldkita | |
kommen“, sagt Plessen. | |
Tatsächlich ist selbst für Anwohnerkinder der Weg zum Klassenraum im Wald | |
weit. Deshalb warten jeden Morgen um 7 Uhr 30 am Sammelpunkt Rathaus | |
Wannsee einige Praktikantinnen. Bis dorthin müssen die Kinder von den | |
Eltern gebracht werden oder alleine fahren, dann geht es gemeinsam mit dem | |
Bus weiter bis zum Schloss Glienicke und von dort 20 Minuten durch den | |
Wald. Ein schöner Fußmarsch schon vor der ersten Stunde – und auch | |
irgendwie schon Teil des Unterrichts. Das sei ja auch der Punkt, sagt | |
Lehrerin Weichert: „Wir wollen lernen mit Freizeit verbinden.“ | |
## Spielen und lernen | |
Und meistens geschieht das eben ganz von alleine. Auch bei der selbst | |
gebauten Waldhütte aus Ästen, ganz in der Nähe des halbfertigen künftigen | |
Gesprächskreises aus Lehm und Ästen. An der Waldhütte wollen die Kinder nun | |
noch eine Terrasse aus Steinen anbauen. Sie achten darauf, dass das | |
Fundament gerade ist und die Terrassensteine nicht wackeln. „Spielen und | |
lernen kommen zusammen. Gedanklich sind die Kinder schon viel weiter als | |
nur im Spiel“, erklärt Lehrerin Weichert. | |
* Name geändert | |
30 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Viola Blomberg | |
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