Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Kurde von der CDU
> Kandidatur Der 19-jährige Onur Bayar aus Neukölln wollte CDU-Abgeordneter
> im Berliner Landesparlament werden – und scheiterte grandios. Trotzdem
> verkörpert der türkischstämmige Jungpolitiker den Aufstieg eines
> Migrantenkindes aus dem Rollbergviertel
Bild: Gab sich kämpferisch im Wahlkampf: Onur Bayar (ganz rechts im Bild) vert…
von Timo Lehmann
Am Wochenende war Onur Bayar noch einmal in seinem Wahlkreis unterwegs. Mit
zwei Freunden zog er durch die Straßen, schüttelte Hände, grüßte seine
Nachbarn. Einige Passanten hatten ihm auf die Schulter geklopft, andere
schrien ihn an und beleidigten ihn. Die Plakate an den 150 Laternen hatte
Bayar abhängen müssen. „Ihr Kandidat für Neukölln“, steht unter seinem
Lächeln, das Foto leicht überbelichtet, auf dem Poster. Der 19-jährige
Kurde von der CDU wollte Abgeordneter im Berliner Landesparlament werden.
Doch das schaffte er nicht. Mit 6,6 Prozent der Erststimmen erzielt Bayar,
zweitjüngster Kandidat im Berliner Wahlkampf, das schlechteste Ergebnis
aller CDU-Direktkandidaten.
Am Freitagnachmittag vor der Wahl gibt sich Bayar kämpferisch an seinem
Stand. Es ist der letzte heiße Sommertag dieses Jahres. „In den 48 Stunden
vor der Wahl gewinnt man die meisten Stimmen“, sagt Bayar. An etwa hundert
Türen hatte er am Vormittag geklingelt. Die Junge Union aus Reinickendorf,
vier Männer und eine Frau, zwischen 16 und 24 Jahren alt, unterstützt ihn
heute auf der Straße. An der Ecke Karl-Marx-Straße und Boddinstraße haben
sie zwei Tische und einen orangefarbenen Schirm mit CDU-Logo aufgestellt.
Gegenüber spielt ein Trompeter Dave Brubecks „Take Five“. Menschenmassen
schieben sich an ihnen vorbei. Der christlich-demokratische Nachwuchstrupp
springt dazwischen, hält den Vorbeiziehenden immer wieder Flyer hin.
„Gibt’s hier gar keine Kugelschreiber mehr?“, fragt ein älterer Herr mit
Schnauzer. Einige Passanten schlagen ihnen die Flyer einfach aus der Hand.
Ein Fahrradfahrer ohne Helm ruft „Hurensohn“. Onur Bayar zwinkert: „Falsc…
Partei, was?“
Die CDU hat es schwer in Nordneukölln: Der Wahlkreis 2 geht von der
Sonnenallee bis zur Hasenheide. Alteingesessene Migranten und Flüchtlinge
treffen hier auf Studenten. Nur wenige Mittelstandsfamilien wohnen im Kiez.
Kaum eine Zielgruppe für die Konservativen ist hier wirklich vertreten.
„Du bist doch viel zu jung. Geh mal zur Schule, Junge“, sagt ein Mann. Onur
Bayar dreht sich zu seinen Leuten und beginnt zu rappen: „Sonntag ist die
Wahl, noch ’n bisschen Infomaterial?“ Die Reinickendorfer von der Jungen
Union schmunzeln.
„Einer von uns“, steht auf seinem Banner. Und Bayar ist einer von ihnen:
Geboren und aufgewachsen im Rollbergviertel, den weiß gestrichenen Blöcken,
in denen 5.800 Menschen aus 30 Nationen leben. Das
Albert-Einstein-Gymnasium absolvierte er mit der Überfliegernote 1,4. Sein
Vater arbeitet auf dem Bau, spricht nur gebrochen Deutsch. Die Eltern
kommen aus dem Osten der Türkei. Bayar erzählt, dass in seiner Familie
keine Elternabende versäumt wurden, dass nach Hausaufgaben gefragt wurde.
„Meine Freunde kamen mit Augenringen in die Schule, weil die Eltern bis
spät abends Besuch hatten.“ Er ging pünktlich ins Bett. Bayar sagt, er habe
Freunde, die in die Kriminalität geraten seien. Das alles müsse sich
ändern.
„Ich will, dass in der ersten Klasse alle Schüler die gleichen Chancen
haben“, sagt er. Aus seinem Mund klingt das authentisch. Der Jungpolitiker
verkörpert den Aufstieg eines Migrantenkindes aus dem als Problembezirk
verrufenen Neukölln. Er hat Vorschläge, wie er Kindern aus
Migrantenfamilien den Aufstieg ermöglichen will. Da sei die
Vorschulpflicht, die wieder eingeführt werden müsse, er will Sprachkurse,
mehr Kitaplätze. „Ich hatte Mitschüler, die waren gut in Mathe und
Biologie, nur in Deutsch und Geschichte lief es nicht. Da ist verlorenes
Potenzial.“
Am Gymnasium nahm er am Wettbewerb „Jugend debattiert“ teil und wurde
Regionalsieger. Für das Planspiel „Jugend und Parlament“, bei dem
Jugendliche einen Tag lang als Abgeordnete im Parlament sitzen, suchte die
Bundestagsabgeordnete Christina Schwarzer vor anderthalb Jahren einen
smarten Redner und fragte am Einstein-Gymnasium an. Ein Lehrer vermittelte
Bayar. Er machte eine gute Figur und trat der CDU bei.
„Ich teile die Werte der CDU, die Hilfsbereitschaft und das religiös
fundierte Menschenbild.“ Das würde er bei der SPD so nicht vorfinden. In
der Jungen Union lernte er gläubige Christen und Juden kennen. Er verfolgt
auf Facebook, welche Feste sie feiern, und gratuliert zu Ostern und
Chanukka.
Bayar selbst beschreibt sich als konservativen Muslim. Er geht regelmäßig
in die Moschee, er hat auch dieses Jahr wieder gefastet und trinkt keinen
Alkohol. Die Politik in der Türkei verfolgt er nicht regelmäßig. Wäre er
kein Kurde, so sagt er, hätte er mit dem Präsidenten Erdoğan und seiner
islamischen Ausrichtung wohl kein Problem. Trotzdem nervt es ihn, wenn er
von anderen Türkischstämmigen als Erstes gefragt wird, wie er zur Politik
in der Türkei stehe: „Ich lebe hier in Deutschland.“
Am Wahlstand erklärt Bayar auf Türkisch zwei älteren Männern, wie und wo
sie am Sonntag wählen können. „Tamam“, so das türkische Einverständnis …
Herren, ein Nicken. Zwei Wähler hat er wohl gerade gewonnen, Bayar freut
sich. Ein Auto hupt. Seine Chefin Sabine Toepfer-Kataw hält an der Seite,
sie braucht den Schlüssel fürs Büro im gegenüberliegenden Rathaus. Seit
einem Jahr arbeitet Bayar jetzt schon für die Staatssekretärin für Justiz
und Verbraucherschutz. „Wir brauchen Leute wie Onur“, sagt Toepfer-Kataw,
die ihn gleich nach seinem Abitur als persönlichen Referenten in Vollzeit
in ihrem Büro anstellte.
Als Onur Bayar im November vergangenen Jahres mit 95,5 Prozent der Stimmen
vom Kreisparteitag als Direktkandidat aufgestellt wurde, hatte er viel
Hoffnung. „Das war zu diesem Zeitpunkt nicht völlig unrealistisch“,
erinnert er sich. Vor einer großen Gruppe älterer CDU-Mitglieder hielt er
eine Rede. Dann organisierte er seinen Wahlkampf und spannte seine gesamte
Familie dafür ein. Vater und Onkel organisierten einen Transporter, sie
verteilten Visitenkarten, leisteten Überzeugungsarbeit für ihren Schützling
im Rollbergviertel. In den letzten sechs Wochen vor der Wahl gab es viel
Medieninteresse für Bayar. Sein Telefon klingelte andauernd.
Eine Fernsehproduktionsfirma wollte sein Kinderzimmer filmen. Die Mutter
lehnte ab. Selbst die französische Tageszeitung Libération berichtete über
den kurdischen Kandidaten in Berlin. Doch so schnell alle da waren, so
schnell waren sie wieder weg.
Der Wahlabend in Rudow. In der Bar „New Outlaw“ ganz im Süden Neuköllns
haben sich die CDU-Mitglieder versammelt. Mit Sauerkraut, Hackbällchen und
Bier verfolgt die CDU-Basis mit ihren Kandidaten auf zwei Flachbildschirmen
den Wahlabend. Kurz vor 18 Uhr steht Bayar etwas allein gelassen am Eingang
und starrt auf den Bildschirm. Christina Schwarzer, sie hatte Bayar einst
in die CDU gebracht, trommelt nervös mit ihren Fingern auf den Tisch.
Dann: die ersten Prognosen. „Das schlechteste Ergebnis der CDU seit dem
Krieg“, kommentiert der Moderator. Raunen im Raum. Onur Bayar verschränkt
die Arme, schüttelt den Kopf. Später am Abend erfährt er sein Ergebnis.
„Ich habe alle enttäuscht, die mir geholfen haben“, sagt er. Ein paar
türkischstämmige Freunde hat er zum Wahlabend mitgebracht. „Es war ein
guter Wahlkampf“, sagen sie.
Schon am nächsten Tag hat sich der Verlierer wieder gefangen. „Es ist auch
eine Erleichterung.“ Der viele Trubel, sechs Wochen Dauerwahlkampf. Sowieso
wartet er seit Wochen auf einen Brief. Die Zulassung für das
Medizinstudium. Hier in Berlin will er studieren und bleiben – im
Rollbergviertel. Außerdem will er wieder ein bisschen Sport treiben.
Und der Politiker Bayar? Trotz der Niederlage soll es weitergehen. In fünf
Jahren hofft er auf ein schwarz-grünes Landesbündnis, dafür will er
kämpfen. Onur Bayar plant auch ein eigenes Bürgerbüro. „Neukölln braucht
die CDU“, sagt er. Nur der Wähler wisse das noch nicht.
29 Sep 2016
## AUTOREN
Timo Lehmann
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.