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# taz.de -- Das böse Auge der Kamera
> Wo die Wirklichkeit den Plot bestimmt: In seinen Film-Lectures zeigt der
> Regisseur und Theoretiker Klaus Wildenhahn die Verbindungslinien zwischen
> Cinema Verité und aktuellem Dokumentarfilm auf
von MADELEINE BERNSTORF
Eine Loseblattsammlung, gelbes Papier, weißes für die Zitate. Die
Wildenhahn-Lectures haben jetzt Berlin erreicht – als exquisites
Faksimile-Buch, das unter dem Titel „Der Körper des Autoren“ im
Material-Verlag Hamburg erschienen ist, und als wirkliches Ereignis im
Kino. In Wien ist die Veranstaltung des Regisseurs und Theoretikers Klaus
Wildenhahn immer ausverkauft. Hier findet sie nun im kleinen Kino des
Arsenal statt, wo etwas geschieht, was mit seiner Art des Zugangs zu tun
hat: eine freundliche Nähe herzustellen und auch einen großen Raum für
Geschichte und umherschweifende Bezüge zu öffnen.
In seiner Auswahl an Dokumentarfilmen sind Beispiele, über die ausufernd
geschrieben worden ist, wie „Happy Mothers Day“ (1963) von Richard Leacock
und Joyce Chopra, aber auch ganz seltene Filme. Es wird kein Kanon
festgezurrt, es bleibt beim Dialog mit den Filmen.
Als Dokumentarist hat Wildenhahn mit seinem Film „Parteitag 64“ gezeigt,
wie sich mit wachen Sinnen und der Methode des Direct Cinema der
BRD-Wirklichkeit ein kleines großes Dokument von Macht und Scheitern
entringen ließ. Der Hamburger Bürgermeister Max Brauer geht auf dem
SPD-Parteitag mit seinem Veto gegen die Ausrüstung der deutschen
Nato-Flotte mit Atomraketen unter.
In vierzig Filmen, viele davon zusammen mit der Kamerafrau Gisela
Tuchtenhagen gedreht, hat Wildenhahn sein ästhetisches Programm gelebt und
1975 eine Filmtheorie der Praxis veröffentlicht: „Über synthetischen und
dokumentarischen Film“. Den Dokumentarfilm schlägt er dabei dem Handwerk,
der Arbeit zu, und so schrieb er damals, der Dokumentarfilm ziele
unabhängig von seinem Gegenstand auf die Befreiung der Arbeit von der
Herrschaft des Kapitals ab; umgekehrt sei der Spielfilm – oder der
synthetische Film, wie ihn Wildenhahn nennt – Industrie und ziele auf die
Konsolidierung des Kapitals ab. Der Dokumentarfilm fordere
gesellschaftliches Handeln heraus und werde auch immer wieder daran
gemessen. Wie immer, wenn das „Illusionstheater der Herrschenden überhand
nimmt“, verlange es die Leute nach „vernachlässigtem gesellschaftlichem
Material“.
Im Arsenal sagt Wildenhahn: „Ich fange einfach an.“ Und am zweiten Abend:
„Fangen wir harmlos an.“ Was dann kam, war, wie schon am Tag zuvor, ganz
und gar nicht harmlos. Die Genauigkeit des dokumentarischen Blicks äußert
sich auch in seinem Sprechen über die Filme. An Humphrey Jennings’ „A Diary
for Timothy“ (1946) etwa reizt Wildenhahn die skeptische Perspektive:
Obwohl der Film von den Verteidigungsbemühungen der Briten Ende des 2.
Weltkriegs handelt, scheute sich der Regisseur nicht, gegen das
patriotische Pathos auch alltägliche Situationen zu setzen, die vom
widerlichen Wetter bis zur Arbeitslosigkeit im Lande reichen.
Tod und Nebel, davon ist es nicht weit zu Resnais' „Nacht und Nebel“
(1955), von dem Wildenhahn nur erzählt, denn gezeigt wird er nicht. Aber
dann „Kinsangani Diary“ (1997) von Hubert Sauper, dem Regisseur von
„Darwin’s Nightmare“: Die Kamera als böses Auge. Wildenhahn sagt, dieser
Filmemacher stehe „zur zwielichtigen Schuld der Berichterstatter und
Hautabzieher“. Und zitiert Joseph Conrads Beschreibung der europäischen
Kolonial-Metropolen als dunkle Plätze der Erde. Gleich hinter Brüssel liegt
der Kongo. Flüchtlinge aus Ruanda, am Verhungern, Kinderblicke in die
Weitwinkelkamera, und der Filmemacher weiß beim Montieren seines erbeuteten
Materials dann schon, dass die hilflosen Hilfsaktionen der UN das Massaker
an den Flüchtlingen nicht verhindern konnten.
Das Publikum geht erschüttert aus dem Kino. Was noch zu sehen und zu hören
sein wird in den drei Lectures, die am Mittwoch und Donnerstag folgen: eine
kleine zehnminütige Plansequenz von Jean Rouch, ein Homevideo über einen
sehr greisen Großvater, Stan Brakhages monumental-intimer Geburtsfilm
„Window Water Baby Moving“, eine Sequenz aus „Der Mann mit der Kamera“ …
Dsiga Vertov, und ein ganz unspektakulärer Beatles-Film von den Gebrüdern
Maysles. Darin sind die Beatles ein bisschen arrogant, ein bisschen
dandyhaft, benehmen sich wie nicht sehr ungezogene Jungs. 1964, beim
Konzert in New York geht der Gesang ganz verloren im schrillen Geschrei der
Fans.
Im Abspann des Films ist ein anderer Sound – Curtis Mayfield? – zu hören.
Der Film wurde in fünf Tagen gedreht, ohne Plot: Sie kommen an und sie
fahren wieder ab, sagte der Regisseur Maysles lakonisch. Der erste
Cinema-Verité-Film ohne Kommentar, es gibt nur Synchronton. Klaus
Wildenhahn schrieb damals in einer Hamburger Undergroundzeitschrift: „Der
Film ist ungleichmäßig, nicht immer zusammenhängend und täuscht nicht
darüber hinweg, dass er keine Analyse des Beatles-Phänomens ist …
Perfektion ist letztlich langweilig und kurzlebig, wenn sie nichts als sich
selbst zum Ziel hat. Diese Unebenheit ist es, die den Dokumentarfilm
auszeichnet. Das hat nichts mit Objektivität zu tun. Der Filmmacher fängt
ein, wozu ihn Geduld, Einfühlungsvermögen, das Essen vom letzten Abend
befähigen. Es ist der denkbar subjektivste Prozess.“ Das sind Sätze, wie
sie Wildenhahn im Arsenal auch heute noch bei seinen Lectures formuliert.
Danach kann man ihre Tragfähigkeit anhand der Filme selber überprüfen.
Die nächsten Lectures von Klaus Wildenhahn finden am Mittwoch (19.30 Uhr)
und am Donnerstag (19.30 und 21 Uhr) im Arsenal statt.
11 Oct 2005
## AUTOREN
MADELEINE BERNSTORF
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