# taz.de -- Altes Lametta, neues Lametta | |
> Innensicht Ist das Weltsozialforum nur noch ein Dinosaurier, der jene | |
> Bewegung, die er produziert hat, längst überlebt hat? Und wenn ja – wäre | |
> das schlimm? Das Resümee von zwei Teilnehmer_innen | |
aus Montreal Tadzio Müller und Stefanie Kron | |
Gespräch zwischen einem alteingesessenen Globalisierungskritiker und einer | |
Migrationsaktivistin, die 2015 zum ersten Mal auf einem Weltsozialforum | |
war: | |
Der Globalisierungskritiker: Früher war alles besser, früher war alles gut. | |
Da hielten alle noch zusammen, die Bewegung hatte noch Wut. | |
Die Migrationsaktivistin: Früher, hör auf mit früher, ich will es nicht | |
mehr hör ’n. Damals war es auch nicht anders, mich kann das alles nicht | |
stör ’n. | |
Wahrscheinlich ist bereits aufgefallen: Das sind nicht unsere Worte, wir | |
lassen die Toten Hosen für uns sprechen – weil die Debatte nun einmal so | |
eine alte ist. Für einen von uns beiden ist dies das sechste | |
Weltsozialforum, für eine das zweite. Und während einer von uns beiden das | |
Gefühl hat, hier war früher mehr Lametta, um neben den Hosen auch Loriot zu | |
zitieren, fällt der anderen die Abwesenheit von Lametta kaum auf – es hängt | |
ja neuer Tinsel am Baum. | |
Also, was ist hier los gewesen, bei diesem ersten Ersteweltsozialforum? | |
Trotz aller Probleme war es doch so, dass die streams, also die | |
thematischen Veranstaltungsreihen, in denen wir beide unterwegs waren, | |
eigentlich doch sehr produktiv waren. Ob Migration oder | |
Klimagerechtigkeit: es gab viele hochkarätig besetze Panels und Workshops, | |
die zeigten, dass das Niveau der Diskussionen über die derzeit überall auf | |
der Welt stattfindenden sozialen Kämpfe, wie etwa um Wohnraum oder die | |
Stadt – oder eben um Rechte in der Migration und Klimagerechtigkeit – | |
mittlerweile sehr hoch ist. | |
Unsere Kolleg_innen und Genoss_innen bestätigen, dass auch andere Streams, | |
andere Bewegungen ihre Zusammenkünfte hier ebenfalls als nützlich und | |
produktiv empfunden haben. Aus den promigrantischen Zusammenhängen kommend, | |
nimmt inzwischen sogar der Vorschlag für ein Global Forum on Migration Form | |
an, während die Aktivist_innen für Klimagerechtigkeit spätestens seit dem | |
WSF in Belen 2009, wo die Belem Declaration on Climate Justice eines der | |
wichtigsten Dokumente in der politischen Mobilisierung nach Kopenhagen | |
wurde, das Gefühl haben, dieses Forum sei eines der wichtigen Events im | |
diesjährigen Mobilisierungskalender. | |
Aber irgendwas fehlte doch. Irgendwie war früher eben doch mehr Lametta. | |
Ja, es fehlte, was die verschiedenen thematischen Streams zusammenführt – | |
welche Formulierung auch immer man dafür wählen möchte: der Kitt, der | |
Überschuss, die Bewegungsmagie, oder auch einfach die vielen Menschen aus | |
vielen verschiedenen Ländern, die jeden einzelnen Workshop, der im Prinzip | |
auch irgendwann und irgendwo anders in der Welt hätte stattfinden können, | |
zu etwas Besonderem machen. | |
Es bleibt uns daher mit einem lachenden und einem weinenden Auge | |
festzuhalten: Das WSF ist ein Dinosaurier, eine Institution, die jene | |
Bewegung, die sie produziert hat, längst überlebt hat, und das merkten wir | |
hier in jeder Sekunde. | |
Aber das ist nun einmal der Lauf, die Logik sozialer Bewegungen: Sie | |
bewegen sich nicht immer aufwärts, manchmal nicht einmal vorwärts, sie | |
ändern ihre Richtung, und neue Bewegungen entstehen, um neue Kämpfe zu | |
führen oder die älteren unter neuen Vorzeichen fortzusetzen. Doch im | |
Gegensatz zu vielen unserer politischen Weggefährten aus dem Norden wie | |
Süden glauben wir nicht, dass das WSF abgeschafft werden sollte, dafür ist | |
es zu wertvoll. Gravierende Probleme – vor allem die Visumfrage, die mit | |
großer Wahrscheinlichkeit das Vermächtnis dieses Forums bestimmen wird: „Do | |
you remember Montreal, the first First World Social Forum?“ – sind der | |
Tatsache geschuldet, dass das Forum im Norden stattfand. Ergo: Es sollte | |
nicht wieder im Norden stattfinden. | |
Doch das Weltsozialforum als solches muss es weiter geben, weil irgendwann | |
auch wieder Bewegungen – oder gar eine Bewegung der Bewegungen – existieren | |
werden, die den politischen und affektiven Überschuss produzieren können, | |
der so ein Event zu etwas Besonderem macht. Und bis dahin sind wir durchaus | |
damit zufrieden, hier tolle Diskussionen gehabt und spannende Menschen | |
getroffen zu haben. | |
Und dann war am Sonntag noch die Gay Pride Parade – und der hippe | |
Premierminister Justin Trudeau mittendrin! Doch ganz schön viel Lametta? Na | |
ja, das Selfie mit ihm haben wir nicht hingekriegt; dass wir Einreise- und | |
Rohstoffpolitik seines Landes absurd finden, konnten wir ihm auch nicht | |
sagen. Ein bisschen geglitzert hat es aber schon. | |
15 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Tadzio Müller | |
Stefanie Kron | |
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