# taz.de -- Balkonansichten aus der Sperrzone | |
> Mauer Seit 1959 wohnt Rosemarie Bork dort, wo früher die Mauer verlief. | |
> Ein Balkonbesuch im ehemaligen Grenzgebiet | |
Bild: Rosemarie Bork blickt kurz nach Maueröffnung von der anderen Seite des K… | |
von Elena Wolf | |
Plötzlich standen sie im Garten. Rollten Stacheldraht aus. Patrouillierten. | |
Als im Sommer 1961 die Grenzer kamen, wurde alles anders. Rosemarie Bork | |
steht heute an einem regnerischen Nachmittag auf ihrem Balkon im dritten | |
Stock der Lohmühlenstraße in Alt-Treptow – direkt am Landwehrkanal. „Von | |
hier oben konnte man mal den Fernsehturm sehen“, erklärt die 79-Jährige und | |
zeigt übers Wasser. Heute versperren Bäume die Sicht. Wo einst die Grenze | |
verlief, stehen jetzt 45 japanische Kirschbäume. | |
## Eine Mauer im Garten | |
Dabei hätte für die Borks alles perfekt sein können: 1959 zogen sie in den | |
Neubau. Sie Buchhalterin bei der Post. Er Elektroingenieur. Im April 1961 | |
wurde Töchterchen Susanne geboren. Doch nach dem Stacheldraht kam die Mauer | |
in den Garten der jungen Familie – und mit ihr ein Wahnsinn, den die | |
meisten nur aus Geschichtsbüchern kennen. Von nun an lebten sie im Osten. | |
Mitten in der Sperrzone. Unter ihrem Balkon stromerten Schäferhunde an | |
Laufanlagen gekettet zwischen Haus und Mauer. Soldaten fuhren auf | |
Motorrädern an den Fenstern der Parterrewohnung im Haus vorbei. | |
Fluchtversuchen übers Dach wurde durch vergitterte Dachbodenfenster | |
vorgebeugt. In den Kellerräumen kontrollierte man ständig, ob jemand einen | |
Tunnel gräbt, um aus der DDR zu flüchten. „Am Anfang dachten wir, das hält | |
nicht lange“, erzählt Rosemarie Bork auf ihrem Balkon, während sie eine | |
Joggerin beobachtet, die am Kanal entlangläuft. „Die können uns doch nicht | |
einfach voneinander trennen, haben wir gedacht“. | |
Als die Grenzen noch passierbar waren, hamsterte die junge Mutter im Westen | |
noch Alete-Babynahrung. Die kleine Susanne kam viel zu früh auf die Welt | |
und verbrachte ihre ersten Wochen im Krankenhaus. Stillen klappte nicht so | |
recht. Das Westprodukt war essenziell, berichtet Bork. Als die Tochter nach | |
Hause durfte, wurden die graue Wand und die bewaffneten Männer im Garten | |
für sie Normalität. Fragen stellte sie kaum. Irgendwann erklärte ihr die | |
Mutter, dass die Mauer da steht, weil die Regierung Angst hat, dass die | |
Leute weggehen. Als sie 18 wurde, zog sie aus der elterlichen Wohnung ins | |
frei gewordene Parterre im Haus, mit Aussicht auf Beton. Immer noch fuhr | |
die Streife an den Fenstern vorbei. Manchmal gab’s ein Schwätzchen. | |
„Wir haben den Krieg mitgemacht und wollten einfach unsere Ruhe“, sagt | |
Rosemarie Bork heute. Klar sei es schlimm gewesen, Freunde und | |
Familienmitglieder im Westen nicht mehr sehen zu können. Doch man hatte | |
sich diesseits der Grenze – im Osten – auch was aufgebaut. „Wir hatten al… | |
Arbeit und ein gutes Gesundheitssystem“, betont die Seniorin. Weg wollten | |
sie nie. Dem täglichen Irrsinn in der Sperrzone begegneten sie mit | |
Galgenhumor – „was anderes blieb uns nicht“. Dann muss sie lachen. | |
Denn nun erzählt sie, welche Hektik in der Lohmühlenstraße ausbrach, als | |
sie ein Campingzelt aus dem Urlaub zum Trocknen auf die Straße stellte: | |
„Die haben sofort kontrolliert, ob in dem Zelt jemand drinsitzt und ’nen | |
Tunnel buddelt“, sagt sie. | |
## Besuch kam eher selten | |
Als weniger lustig beschreibt sie die Einsamkeit in der Sperrzone. Tochter | |
Susanne bekam selten Besuch von Freunden. Ihre Hochzeit in der elterlichen | |
Wohnung wurde zum Behörden-Marathon. Damit überhaupt jemand Fremdes ins | |
Haus durfte, mussten Passierscheine organisiert werden. Für die | |
Vollzeitbeschäftigte ein Riesenaufriss. Für die Gäste nervig. Irgendwann | |
kam kaum mehr jemand. Freundschaften sind an der Mauer zerbrochen. Der | |
Galgenhumor nutzte sich ab. | |
Dann, eines Tages, machten auf der Arbeit Gerüchte die Runde. „‚An der | |
Mauer ist irgendwas‘, haben sich die Leute erzählt“, sagt Rosemarie Bork. | |
Noch bevor ihr klar wurde, was genau vor sich ging, passierte das | |
Unglaubliche: Die Mauer wurde aufgerissen. Nach fast 30 Jahren durften die | |
Borks in den Westen. Einfach so. | |
Rosemarie Bork erinnert sich deutlich, wie sie mit der Familie zum ersten | |
Mal ungläubig über die Brücke am Landwehrkanal lief. „Wir hatten im ersten | |
Moment vor allem das Bedürfnis zu schauen, wie unser Haus von der anderen | |
Seite aus aussieht.“ Die jahrzehntelangen Isolation in der Sperrzone hatte | |
Spuren hinterlassen. Man war sich unsicher, ob die Grenzen wieder dicht | |
gemacht werden. Weil die kleine Enkelin einen dunklen Teint und schwarze | |
Haare hat, machte sich die Familie Sorgen: „Wir bekamen Angst, dass die uns | |
nicht mehr rüberlassen, weil sie glauben, wir hätten im Westen ein Kind | |
geklaut.“ | |
Und wieder muss Rosemarie Bork lachen. Denn Monate später schauten die | |
Borks vom Balkon aus zu, wie Bagger und Kräne ihre letzten Zweifel an der | |
Einheit niederrissen. | |
Doch die gewonnene Freiheit brachte neue Unsicherheit. Mit dem Niedergang | |
der DDR verlor Bork auch ihren Job im Zeitungsvertriebsamt der Post. Wurde | |
nach der Betriebsauflösung mit 56 Jahren in Rente geschickt. Dabei hätte | |
sie gern weitergearbeitet. Einer neuen Stelle im Westen stand sie aber | |
skeptisch gegenüber. „Ehemalige Kolleginnen haben mir erzählt, wie | |
unkollegial es da zugeht. Alle konkurrieren miteinander“, sagt sie und | |
versucht, das solidarische Arbeitsklima im Osten zu erklären. „Wir waren | |
alle wie Freunde – wir haben ja alles miteinander erlebt.“ Wegziehen kam | |
auch nach der Wende nicht infrage. Lieber wollte sie mit ihrem Mann in den | |
Urlaub fahren. | |
## Endlich schien alles möglich | |
Doch als Anfang der Neunziger endlich alles möglich schien, starb der Mann. | |
Viel zu früh und unerwartet. Ein kleiner Seufzer verrät, dass Rosemarie | |
Bork ihn immer noch sehr vermisst. Das kleine Porträt neben Fotos der | |
Familie ihrer Tochter auf einem Beistelltischchen am Sofa erinnert sie | |
täglich an ihn. | |
Doch Rosemarie Bork hat noch viel vor. Demnächst will sie nach Dänemark. Es | |
gibt Fotos im Wohnzimmer, auf denen lächelt sie mit den Enkelinnen bei | |
Madame Tussauds in Berlin um die Wette. Dass manche Touristen so scharf auf | |
Mauerstücke als Souvenirs sind? Das versteht Bork hingegen nicht: „Das Ding | |
hatten wir lange genug vor der Nase.“ | |
13 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Elena Wolf | |
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