# taz.de -- „Das Bürgeramt ist das Sibirien der Berliner Verwaltung“ | |
> Behörden Die zweistufige Verwaltung von Senat und Bezirken ist für Berlin | |
> vernünftig, sagt Verwaltungswissenschaftler Christoph Reichard. Nach | |
> Jahren des Sparens müsse aber auf gut funktionierende Verfahrensabläufe | |
> gesetzt werden | |
taz: Herr Reichard, die Berliner Verwaltung ist zweistufig und besteht aus | |
Senat und Bezirken. Diese schieben sich gern gegenseitig die Schuld zu, | |
wenn mal wieder etwas nicht läuft in der Stadt. Das ist offenbar praktisch | |
– aber welche Vorteile hat dieses System noch? | |
Christoph Reichard: Ich denke schon, dass die Zweistufigkeit für eine große | |
Metropole wie Berlin eine vernünftige Lösung darstellt. Jeder der Bezirke | |
ist für sich eine Stadt von der Größe Essens oder Dortmunds. Die können Sie | |
nicht aus einer zentralen Stadtverwaltung steuern. Das ist nur in | |
Ausnahmefällen geboten – im Baubereich etwa im Zusammenhang mit dem | |
Regierungsumzug. Hinzu kommt, das Berlin erst in den 1920er Jahren zur | |
Großstadt wurde. Vorher gab es ein Konglomerat an selbstständigen Städten. | |
Ohne die unteren Verwaltungsebenen hätte man die sich sehr wichtig | |
nehmenden Teilstädte gar nicht unter ein Dach bekommen. | |
Die Zweistufigkeit soll also sicherstellen, dass Aufgaben und Probleme | |
direkt vor Ort bearbeitet und gelöst werden. Genau das klappt in Berlin | |
aber nicht, wie zum Beispiel die Wartezeiten bei den Bürgerämtern belegen. | |
Die Bezirke sehen die Schuld dafür beim Senat, der ihnen nicht genug | |
Personal bezahle. Haben sie recht? | |
Dass die Berliner Verwaltung nicht allzu gut funktioniert, ist einer ganz | |
üblen Mischung aus einem alten Schlendrian aus Vormauerzeiten, als sowohl | |
West- als auch Ostberlin alimentiert wurden, und übertriebener Sparpolitik | |
geschuldet. Beispiel Bürgerämter: Die haben vergreistes Personal, hohe | |
Krankenstände, zum Teil veraltete Software. Da müssen gut funktionierende | |
Verfahrensabläufe, IT-Lösungen und Führung hinein. Das hat aber alles | |
nichts mit der Zweistufigkeit zu tun, und ein Bürgeramt könnte man auch gar | |
nicht zentralisieren. Zudem sollte man bloß nicht glauben, dass die | |
Senatsverwaltungen sehr viel besser arbeiteten. | |
Sie sagen, Dezentralisierung ist wichtig. Aber die Macht der Bezirke ist | |
begrenzt. Ihr Haushaltsgeld bekommen sie zugeteilt wie Kinder ihr | |
Taschengeld. Größere Investitionen können sie nur mithilfe der Landesebene | |
stemmen. Wie passt das zusammen? | |
Das Geld verteilt der Senat nicht nach Gutsherrenart, sondern nach dem | |
Budgetierungsverfahren. Dafür wurden Hunderte Aufgaben der Bezirke | |
definiert – von Kita-Plätzen bis zur Parkpflege. Jeder Bezirk bekommt für | |
die erfüllte Aufgabe einen Mittelwert aller Kosten der Bezirke erstattet. | |
Wer gut gewirtschaftet hat, bekommt mehr, als er eigentlich braucht, und | |
wer schlecht gewirtschaftet hat, bekommt weniger. Das setzt | |
Effizienz-Anreize. Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Qualität | |
verringert wird. Da fehlen nach meinem Dafürhalten Kontrollen der Qualität. | |
Zudem nimmt das System keine Rücksicht auf Problembezirke und die | |
besonderen Anforderungen, die daraus entstehen. | |
Genau diese Mängel führen zu Problemen, etwa bei Schulen, die nicht so | |
rasch gebaut und saniert werden können, wie der Bedarf an Schulplätzen | |
steigt. Auch hier zeigen Senat und Bezirke mit dem Finger aufeinander. | |
Überall in Deutschland sind die Gemeinden für Schulgebäude und deren | |
Ausstattung, die Landesebene für Personal und Lehrpläne zuständig. In | |
Berlin ist das analog, mit der Besonderheit, dass bei Baumaßnahmen der | |
Senat mit besonderen Sanierungsprogrammen in den Aufgabenbereich der | |
Bezirke hineinwirkt. Aus dieser Konstellation ergeben sich überall | |
Kompetenzkonflikte. In Berlin beobachten wir aber ein horrendes Versagen | |
der Berliner Verwaltung als solcher. Die absurde Sparpolitik hat dazu | |
geführt, dass überhaupt nicht in die Zukunft geguckt und beispielsweise bei | |
der Schulsanierung alles so laufen gelassen wurde. Das war Schlendrian und | |
Verantwortungslosigkeit. | |
Und was sagen wir jetzt den Schülern? Pech gehabt? | |
In diesem Fall könnte es tatsächlich helfen, Verantwortlichkeiten zu | |
bündeln. In vielen anderen Bereichen muss man aber sagen: Die Probleme | |
liegen nicht an der Zweistufigkeit und würden eher stärker werden, wenn man | |
das zentralisierte. | |
Wie kann man diese Probleme dann lösen? | |
In erster Linie muss die Berliner Verwaltung auf Vordermann gebracht | |
werden. Die ist über Jahrzehnte ausgehungert, demotiviert und durch | |
seltsame bürokratische Regelungen gegängelt worden. Auch die Ausbildung des | |
Verwaltungsnachwuchses liegt im Argen. Da finden sich teilweise nur | |
zweitklassige Bewerber, weil die Bezirke keine attraktiven Arbeitgeber | |
sind. Die Bezahlung ist nicht gerade umwerfend, und wer geht schon | |
freiwillig ins Bürgeramt? Das ist das Sibirien der Berliner Verwaltung. | |
Außerdem müssen die Verfahrensabläufe in den Ämtern optimiert werden. Da | |
gibt es einen Riesenberg an Aufgaben, auf beiden Ebenen. | |
Sehen Sie Möglichkeiten, die Reibungsverluste der Zweistufigkeit zu | |
minimieren? | |
Vielleicht können durch Gremien, in denen sich beide Seiten auf Augenhöhe | |
begegnen, die Schwierigkeiten begrenzt werden. Aber das System enthält | |
Sollbruchstellen, die man kaum vermeiden kann. | |
Gibt es Vorbilder? | |
Es gibt eine Vielzahl deutscher Großstädte, die gut funktionieren – | |
Stuttgart, München, Düsseldorf, Hannover. Die haben keine mit Berlin | |
vergleichbare zweistufige Verwaltung, aber die ist aus meiner Sicht ja auch | |
nicht das Problem. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass Berlin als | |
Stadtstaat sich aus Kontakten zu anderen Großstädten ein bisschen | |
heraushält. Dabei ist eine vernünftige Organisation erst mal unabhängig | |
davon, ob die Stadt zusätzlich den Charakter eines Bundeslandes hat. Ich | |
denke, da kann man viel lernen. | |
INTERVIEWJuliane Wiedemeyer | |
20 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Juliane Wiedemeier | |
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