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# taz.de -- Sehnsuchtsort Wolfgang Schleppe und sein Team porträtieren Venedig…
Bild: Die Person des illegalisierten Händlers erzählt viel von der europäisc…
von Lennart Laberenz
Man kann am Aeroporto di Venezia Tessera „Marco Polo“ hinter drei Frauen
mit schwäbischem Dialekt in der Warteschlange stehen und über drei Taschen
staunen: Was da symbolisch und real über ihren Schultern baumelt, birgt so
viele Fragen, dass es einen den halben Rückflug beschäftigen kann. Taschen
dieser italienischen Marke sind fest im vierstelligen Preissegment
verankert, eine Fernseh-„Darstellerin“ wie Carmen Geiss versucht mit ihnen
Geschmack zu simulieren, landet aber zuverlässig bei einer obszönen
Inszenierung von sozialem Ausschluss.
Dagegen ist das Leder über den Schultern der Schwäbinnen falsch, die
Markenkürzel sind in einer chinesischen Halle gedruckt. Vielleicht haben
die drei die Taschen an einem Kanal in der Altstadt von einem fliegenden
Händler in einer Plastiktüte übernommen und ihm vierzig Euro in die Hand
gedrückt.
Wenn Schwäbinnen an einem venezianischen Kanal eine in China gefälschte
Tasche von einem illegalen Straßenhändler aus dem Senegal kaufen, um sich
danach zu Hause in die Ökonomie des Spektakels einzureihen, sind das
Momente, die Venedig als „Schnittstelle zwischen einer freizeitbasierten
Mobilität und einer subsistenzbasierten Mobilität ausmachen“, wie der
Philosoph Wolfgang Scheppe in der endlich erhältlichen Neuauflage der
epochalen Studie „Migropolis“ schreibt.
Die Studie hinterfragt die verbreitete Haltung Europas, nach der illegale
Zuwanderung „ein quasi-natürliches Phänomen sei, das der westlichen Welt
zufällig als passives Opfer widerfahre“. Denn tatsächlich, so Scheppe, ist
die Zuwanderung auf vielfältige Weise ein Produkt der westlichen
Industrienationen: „Erstens, indem eine globalisierte Wirtschaft noch den
letzten Winkel der Welt der produktiven Verwertung von Eigentum unterworfen
und dabei lokale und traditionelle Formen des Überlebens vernichtet hat.
Und zweitens, indem es durch das schlichte Überqueren einer Grenze Menschen
zu Kriminellen mutieren lässt.“ Der „Atlas einer globalen Situation“
vermisst dazu die Lebenswelten in Venedig zwischen 2006 und 2009 mit einer
Fülle von Daten, Bewegungsprofilen, Beobachtungen, Fotografien, Interviews
und knappen Essays. Scheppe und seine Kollegen zeigen die Konstruktion
Venedigs als Schaustelle für Erlebnisse und als Knoten von
Wanderungsbewegungen.
Die Neuauflage kommt wie gerufen: In der Person des illegalisierten
Händlers erzählt sich vieles von der Bigotterie, mit der Reichtum der
Armut, mit der die geordnete Sicherheit Europas der von Kriegen und
Wirtschaftspolitik zerfurchten Welt gegenübertritt. „Migropolis“ stellt die
Lebensläufe und Alltagsbewegungen der moldawischen Putzfrau, der
chinesischen Touristen und der senegalesischen Verkäufer den Preisen für
Werbeschilder entgegen. So blicken Scheppe, seine Assistenten und
Studierende der Universität für Architektur auf den Schauplatz hinter die
Fassade Venedigs als Exportmaschine.
In der Region gibt es zwar noch Reste einer petrochemischen Vergangenheit
(die weiterhin an der Vernichtung der Lagune arbeitet), umfangreicher sind
aber die Schauplätze der Deindustrialisierung. Und die gewaltige
Dienstleistungsmaschine. Zusammengenommen ist Venedig Sinnbild und
stadtgewordene Eskalationsstufe der Globalisierung, in der Zuwanderer
notwendige Rädchen im Betrieb sind, aber auch Projektionsfläche für
Kontroll- und Überwachungsgesten. Mit ihnen macht eine transnationale
Wirtschaft hohe Gewinne – auch indem sie Schwäbinnen mit gefälschten
Zeichen von Kaufkraft ausrüsten.
Wolfgang Schleppe (Hg.): „Migropolis Venice/Atlas of a Global Situation“.
Hatje Cantz, Stuttgart 2016, 1.344 Seiten, 78 Euro
13 Aug 2016
## AUTOREN
Lennart Laberenz
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