# taz.de -- Gesetzesänderung auf Zwang | |
> Gesundheit Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie sind verfassungswidrig, | |
> urteilte das Bundesverfassungsgericht bereits 2011. In Berlin hat man nun | |
> das neue Psychisch-Kranken-Gesetz beschlossen – Betroffenen-Vereinigungen | |
> geht es nicht weit genug | |
Bild: Fast psychedelisch ins Licht gesetzt: die Psychiatrie im Urbankrankenhaus | |
von Jasmin Sarwoko | |
Sie kamen mit drei Mann. Zwei packten ihn, hielten ihn still. Der Arzt | |
spritzte ihm Haldol, ein Neuroleptikum gegen Schizophrenie. Dann | |
schnallten sie ihn an ein Krankenbett und ließen ihn zwei Tage lang | |
liegen – Reinhard Wojke schaudert immer noch, wenn er sich an seinen | |
ersten Psychiatrieaufenthalt 1975 zurück erinnert. Gerade | |
einmal 18 Jahre alt war er da. Die Diagnose: Psychose. „Das waren noch | |
andere Zeiten. Damals kam alles, was nicht normal war, sofort in die | |
Anstalt“, sagt der 59-Jährige. Heute sind die rechtlichen Auflagen | |
für Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie schärfer, die Kritik von | |
Betroffenenverbänden ist dennoch groß. | |
Die jüngste Änderung des Psychisch-Kranken-Gesetzes (PsychKG) | |
beschloss das Berliner Parlament am 9. Juni. Bis dahin war das recht | |
schwammig formuliert. In der Praxis reichte die bloße Einweisung oft | |
als Legitimationsgrundlage für Fixierungen oder die | |
Verabreichung von Psychopharmaka aus. Das neue PsychKG | |
rechtfertigt Zwangsbehandlungen nur bei Selbst- oder | |
Fremdgefährdung oder wenn Patienten nicht dazu in der Lage sind, über | |
die Behandlung zu entscheiden. Die Zwangsbehandlung darf | |
allerdings nur als letztes Mittel dienen, wenn alle anderen | |
Lösungen versagen. Zudem müssen Richter die Maßnahme bewilligen, | |
die Psychiatrien diese dokumentieren. | |
Anlass für die Neuregelung ist ein Urteil des | |
Bundesverfassungsgerichts, das 2011 Teile der PsychKG in | |
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen für | |
verfassungswidrig erklärte – und damit dazu die Gesetze der | |
restlichen Bundesländer nichtig machte. Demnach stellen | |
Zwangsbehandlungen einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf | |
körperliche Unversehrtheit und effektiven Rechtsschutz dar. Das | |
Gericht berief sich neben dem Grundgesetz auch auf die | |
Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. | |
## Gewaltlose Psychiatrie | |
Die aktuelle Gesetzesänderung ist eine gute Nachricht für Reinhard | |
Wojke und die Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener und | |
Psychiatrie-Betroffener e. V., deren Mitbegründer er ist. Doch der | |
Vorstoß geht den Betroffenen nicht weit genug. Sie haben teilweise | |
eine lange Krankengeschichte hinter sich und kämpfen für eine | |
komplett gewaltlose Psychiatrie. Für sie bedeuten | |
Zwangsmaßnahmen Demütigung, Schmerz und einen Eingriff in ihr | |
Selbstbestimmungsrecht. Oft würden Ärzte die Patienten nicht ernst | |
nehmen, nach dem Motto: Einmal krank, immer krank. „Wir müssen weg von | |
diesem Gott-in-Weiß–Gedanken“, sagt Wojke. Er fordert empathische | |
Deeskalationsmaßnahmen, Gespräche statt Gewalt. | |
Auch die Fraktionen der Grünen und Piraten im Abgeordnetenhaus | |
sprechen sich für eine Abschaffung der Zwangsbehandlungsparagrafen | |
aus. „Wir lehnen das Gesetz in dieser Form ab“, sagt Fabio Reinhard, | |
Mitglied im Gesundheitsausschuss der Piraten-Fraktion. „Die | |
Zwangsbehandlung sollte nur im äußersten Notfall durchgeführt | |
werden, doch das Gesetz ist hier nicht spezifisch genug.“ | |
Die SPD und CDU lehnten sämtliche Änderungsanträge der Grünen und | |
Piraten ab. „Es ist wichtig, die Einwilligungsfähigkeit der | |
Personen wiederherzustellen“, sagte Gesundheitssenator Mario Czaja | |
(CDU) in der Ausschusssitzung im Mai. Dies sei durch temporäre | |
Maßnahmen überhaupt erst möglich. | |
„Wenn man die Zwangsbehandlung gänzlich verbietet, würden wir Ärzte | |
in gewissen Situationen unsere Schutzpflicht verletzen“, sagt | |
Tilman Steinert, Direktor der Klinik für Psychiatrie und | |
Psychotherapie Weissenau in Baden-Württemberg. Er forscht seit | |
Jahren zum Thema Zwangsbehandlungen und Gewalt in der Psychiatrie. Es sei | |
stets eine Frage der Abwägung zwischen dem Respekt vor der Würde und | |
Selbstbestimmung des Patienten und der Verpflichtung, zum | |
gesundheitlichen Wohle des Kranken zu handeln, so Steinert. In der | |
Diskussion gehe es jedoch auch um den Schutz Dritter. Denn nicht nur | |
Patienten hätten Erfahrung mit traumatischen Erlebnissen in der | |
Psychiatrie. Auch Pfleger und Angehörige könnten in belastende | |
oder gefährliche Situationen kommen, wenn aggressive Patienten | |
auf sie losgehen. Auch ihre Rechte gelte es zu schützen. | |
Den Vorwurf, dass Psychiater zu leichtfertig zu Medikamenten und | |
Fixierung greifen, hält Steinert für falsch. „Es gibt keinen | |
Freibrief für Zwangsmedikation in den aktuellen deutschen | |
Gesetzen. Das belegen auch die Zahlen. Einer von 200 | |
Psychiatrie-Patienten erhält Medikamente gegen seinen Willen.“ | |
Baden-Württemberg führte 2014 als erstes Bundesland ein Register | |
für die Erfassung von Zwangsmaßnahmen ein. Im Berliner Gesetz | |
findet sich lediglich eine unspezifische Stelle zur | |
Dokumentationspflicht. | |
## Kriminell oder krank? | |
„Fixation und Psychopharmaka machen Kranke nicht gesund, sie | |
lindern höchstens die Symptome“, sagt Wolfgang Albers, | |
Abgeordneter der Linken in Berlin und selbst Psychiater. „Es geht | |
darum, auf rechtlicher Basis Möglichkeiten zu schaffen, wie man mit | |
Patienten umgeht, die sich in psychischen Ausnahmezuständen | |
befinden, zum Beispiel wenn sie andere Menschen attackieren.“ | |
Greife die Psychiatrie hier nicht ein, so würden psychisch Kranke wie | |
Straftäter nach Polizeirecht behandelt und in eine Zelle gesteckt | |
werden – ohne Aussicht auf psychiatrische Behandlung. Daraus folge | |
eine Kriminalisierung von Menschen mit psychischen Störungen. | |
Die Berliner Betroffenen-Vereinigungen um Wojke kritisieren | |
auch, dass der Gesetzesentwurf zu schnell durchgepeitscht worden sei | |
– in nur drei Ausschusssitzungen diskutierten die Abgeordneten | |
das heikle Thema. Zudem würden Betroffene nicht genug in die | |
Therapie miteinbezogen. Dabei gebe es Möglichkeiten der | |
Inklusion im Psychiatriealltag: etwa durch die sogenannte | |
Ex-In-Strategie, bei der ehemalige Psychiatrie-Erfahrene eine | |
Ausbildung erhalten, um die therapeutische Arbeit zu ergänzen. | |
Erfolgversprechend seien auch die Soteria-Wohnmodelle, offene | |
Stationen, die ohne Zwang und ebenfalls mit Ex-In arbeiten. | |
Die Debatte über Zwangsbehandlungen in deutschen Psychiatrien | |
steckt voller Ambivalenzen – aus Sicht der Betroffenen wie aus | |
Sicht der Gesetzgeber, Ärzte, Angehörigen und Pfleger. Leicht sei | |
der Umgang mit dem sensiblen Thema nicht, sagt Reinhard Wojke. Vor acht | |
Jahren war er das letzte Mal in der Psychiatrie. „Hoffentlich zum | |
letzten Mal.“ | |
11 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Sarwoko | |
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