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# taz.de -- Angst Nach dem Anschlag in Nizza wird der Ausnahmezustand in Frankr…
Bild: Passanten bei Polizeikontrollen in Nizza nach dem Anschlag
Aus Nizza Annika Joeres
Endlich sollte wieder alles normal werden. Endlich, hatten wir gehofft,
würden wir wieder unbeschwert Feste in den Städten feiern können; endlich
würden die hässlichen Absperrgitter vor allen Rathäusern und Kindergärten
abgebaut.
Am 26. Juli sollte der seit Monaten bestehende Ausnahmezustand in
Frankreich enden. Danach, hofften wir, würden wir wieder das Gefühl haben,
in einem Frankreich zu leben, das sich nicht im permanenten Alarmmodus
befindet. Wir wollten die Französische Revolution feiern wie jedes Jahr,
mit Feuerwerk und Musik und viel Rosé.
Aber nun ist ein Attentäter über die Meerespromenade in Nizza gerast, er
hat mehr als 80 Menschen in den Tod gerissen und die Hoffnung auf die
Rückkehr in einen unbeschwerten Alltag zerstört.
Nun herrscht wieder die Angst wie nach den Anschlägen von Paris im
November. Wieder häufen sich die Anrufe von Freunden und Familien, ob man
sich nicht möglicherweise am falschen Ort in Frankreich aufgehalten habe.
Wieder gucken uns die Kinder fragend an. Und wieder versucht Präsident
François Hollande, mit Gittern, mit Elternverboten in Schulen und
Kindergärten, mit der Verlängerung des Ausnahmezustands eine Sicherheit
vorzugaukeln, die es nicht geben kann. Nicht, wenn ein Lkw ausreicht, um
viele Menschen zu töten.
## Wieder gucken uns die Kinder fragend an
Das Ziel des Attentäters ist das Wahrzeichen Nizzas: Die Promenade zieht
sich über sieben Kilometer am Meer entlang; wer ans südfranzösische Nizza
denkt, denkt an diesen Ort. Kaum ein Bewohner Südfrankreichs, der nicht
schon die Promenade entlang geschlendert wäre. Nicht ein Tourist in Nizza,
der nicht vom roten Asphalt aus auf das Meer geschaut hätte.
Das Attentat traf einen Ort, der allen gehörte – den Reichen der Côte
d’Azur, die in den Restaurants am Strand ihre Austern verspeisen, den
Jugendlichen, die abends am Strand Gitarre spielen und Rotwein aus
Tetrapaks trinken, und den Touristen, die sich auf den Kieselsteinen
bräunen. Es ist ein Ort, an dem sich alle Menschen und Nationalitäten
mischen – er ist viel bunter und gemischter als die exklusiven Strände in
der Nachbarschaft, in Cannes oder Saint-Tropez.
Ausgerechnet hier fuhr der Täter seine Todestour. Ausgerechnet hier und
ausgerechnet am 14. Juli, dem Nationalfeiertag. An kaum einem anderen Tag
ist Nizzas Promenade so von Menschen bevölkert. Das Feuerwerk erhellt
minutenlang die Strandstraße, Zehntausende Touristen an der Côte d’Azur
schauen zu. Ein Höhepunkt des Jahres wird für immer von diesem Attentat
überschattet sein.
Der Ausnahmezustand, der Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen
Beschluss, Versammlungsverbote oder Hausarrest für mutmaßliche Gefährder
ermöglicht, wird nun erneut um drei Monate verlängert. Und damit gelten all
die Vorschriften weiter, die nach dem Attentat vom Novemberletzten Jahres
in Paris eingeführt wurden. „Es bringt ja doch alles nichts“, sagen Freunde
nun; wer soll Menschen aufhalten, die offenbar nur noch großen Hass auf die
französische Gesellschaft empfinden? Niemand kann das schaffen, sagen viele
Franzosen, und die Bäckersfrau weigert sich, auch nur ein Wort über das
Attentat zu verlieren – weil sie „ihr Frankreich“ zurückhaben will und
vielleicht wieder daran glauben kann, wenn sie über das Geschehene
schweigt.
Dabei schien es ein friedlicher Sommer zu werden. Nach der
Europameisterschaft, während der sich nur ein paar besoffene Fans prügelten
und ansonsten alles gut lief, hatte Präsident Hollande am Donnerstag
angekündigt, den Ausnahmezustand, den état d’urgence, zu beenden. Eine
Freundin rief nach dieser Nachricht extra an, um ihre Freude darüber zu
teilen.
Denn der Ausnahmezustand hat unser Leben in Frankreich nicht drastisch,
aber doch schleichend verändert. Überall prangen rote Warndreiecke. Wir
können unsere Kinder nicht mehr am Klassenraum im Kindergarten abgeben,
sondern müssen sie schon am Eingangstor au revoir sagen.
## Wir haben uns daran gewöhnt
Beim Karneval in Nizza, der nach jenen in Rio und Venedig der größte der
Welt ist, bewachten schwerbewaffnete Männer die Clowns. Feste wurden
abgesagt und Rucksäcke in Einkaufszentren durchsucht. Und der Elternbeirat
der Grundschule stritt plötzlich nicht mehr für biologisches Essen in der
Kantine, sondern debattierte stundenlang über höhere Zäune um den Schulhof.
Unser Alltag ist seit Monaten gespickt mit sinnlosen Versuchen, den
Terrorismus einzudämmen. Aber der Eindruck, dass keine Spezialkräfte der
Welt uns schützen können, ist geblieben.
Die Fragen nach den tieferen Ursachen möchten nur wenige stellen. Schon bei
den vergangenen Wahlen hat in einigen Stadtteilen mehr als jede zweite
Person für den rechtsextremen Front National gestimmt, in aktuellen
Umfragen kommt Marine Le Pen auf noch mehr Anhänger. Die Wut wächst, aber
zugleich – und das ist das Erstaunliche – die Gleichgültigkeit, ja, die
Akzeptanz der Ausnahme.
Denn etwas hat sich doch verändert seit den Attentaten in Paris vor nunmehr
acht Monaten: Damals sagten die Schulleiter noch etwas kopflos, wir sollten
mit den Kindern am besten bis zum Schuleingang rennen; so überfordert waren
sie mit den neuen Bestimmungen. Damals noch waren Nachbarn und Freunde
davon überrumpelt, dass Frankreich ein Ziel von Attentaten sein kann.
Diesmal ist der Eindruck, dass fast schon alle damit gerechnet hatten, dass
wieder etwas passieren würde, so häufig, wie über die Gefahr in den
Nachrichten berichtet wird. „Das überrascht mich nicht“, heißt es nun, au…
wenn sich die Ereignisse diesmal direkt in der Nachbarschaft abspielen und
nicht in der 900 Kilometer entfernten Hauptstadt. Wir haben uns daran
gewöhnt, im Ausnahmezustand zu sein. Das normale, sorglose Leben ist für
viele Franzosen wieder in weite Ferne gerückt.
16 Jul 2016
## AUTOREN
Annika Joeres
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