# taz.de -- Noch nicht einmal finanziell abgespeist | |
> ZEITGESCHICHTE Ein Buch mit Reportagen schildert den Kampf von | |
> NS-Verfolgten um Anerkennung und Entschädigung | |
Bild: Telis Nahmias in seinem Anwaltsbüro in Thessaloniki | |
von Hans-Ulrich Dillmann | |
„Warum schreiben Sie nicht über Mode?“, wollte Uri Chanoch am Telefon von | |
Nina Schulz 2009 wissen. Der in Israel lebende Holocaust-Überlebende konnte | |
sich nicht vorstellen, dass JournalistInnen sich für das Schicksal der | |
Schoah-Opfer interessieren. Sieben Jahre nach diesem Telefonat liegt das | |
Ergebnis der Recherchen der Buchautorin Schulz und ihrer Fotografenkollegin | |
Elisabeth Mena Urbitsch vor. Die Sammlung von Reportagen, von denen einige | |
bereits mit Medienpreisen ausgezeichnet worden sind, beschreibt die Kämpfe | |
von NS-Verfolgten um Anerkennung und Entschädigung. | |
An einem verschneiten Dezembertag trifft Schulz den 85-Jährigen in Berlin | |
wieder. Chanoch vertritt die israelischen Organisationen von | |
Holocaust-Überlebenden bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag. Thema ist | |
die rückwirkende Auszahlung von sogenannten Ghettorenten ab 1997, für die | |
er plädiert. Vier Monate später lehnt der Bundestag mit der Stimmenmehrheit | |
der christlich-liberalen Regierungskoalition eine solche Regelung ab. | |
So wie Uri Chanoch haben viele NS-Opfer den Weg der beiden JournalistInnen | |
immer wieder gekreuzt und sie bewegt. Das Schicksal der Menschen beim | |
Streit um wenigstens eine finanzielle Entschädigung des Leidens hat die | |
Buchautorinnen kreuz und quer durch Europa bis nach Israel reisen lassen: | |
Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und Christen, | |
Kommunisten und Sozialdemokraten, Zwangssterilisierte und Homosexuelle | |
haben ihre Leiden geschildert – und über die Kränkungen und Erniedrigungen | |
berichtet, die sie bei der Prüfung des Anspruchs auf Wiedergutmachung für | |
die erlittenen körperlichen und seelischen Verletzungen in der NS-Zeit | |
erfuhren. | |
## Fürs Ghetto keine Rente | |
Bat-Sheva Szwarc musste als Kind im Warschauer Ghetto Zwangsarbeit leisten. | |
Später ging die Schoah-Überlebende nach Israel. Die inzwischen verstorbene | |
Frau war eine von 70.000 Personen, die einen Antrag auf eine sogenannte | |
Ghettorente nach dem „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus der | |
Beschäftigung in einem Ghetto“ (KRBG) gestellt hatte. Sie gehörte zu den 95 | |
Prozent, deren Antrag abgelehnt wurde. Peinlich penibel wurde die orthodoxe | |
Jüdin Bella Grünwald von deutschen Richtern in Tel Aviv befragt, um ihren | |
Anspruch auf eine Ghettorente zu prüfen. Der Richter will nicht nur wissen, | |
ob die aus Ungarn stammende Frau in einem Ghetto war, sondern ob sie dort | |
möglicherweise „aus eigenem Willensentschluss“ gearbeitet habe. | |
Rentenanspruch für lediglich einen Monat Ghettoaufenthalt billigt der | |
Vertreter der Rentenversicherung Bella Grünwald zu. | |
Albträume plagen Telis Nahmias. „Zwei deutsche Stiefel vor meiner Nase“ | |
sieht der Achtzigjährige immer wieder im Schlaf. „Für das bekommst du keine | |
Entschädigung“, erzählte der Athener Rechtsanwalt. Nahmias kämpft seit | |
Jahrzehnten für die Jüdische Gemeinde von Thessaloniki um eine | |
Wiedergutmachung aus Berlin für die Verfolgung durch die Deutschen. Bisher | |
noch immer erfolglos. 38 Millionen Reichsmark pressten die Nazideutschen | |
der Gemeindevertretung ab, um die 9.000 Männer vor Zwangsarbeit zu retten. | |
Vergeblich. Die Gemeindemitglieder wurden wie 50.000 andere trotzdem | |
deportiert, fast 40.000 Juden direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern | |
von Auschwitz ermordet. | |
Lebensgeschichten mit Langzeitbelichtung nennen die Autorinnen ihre | |
Publikation, die ihren Wert und ihre Klasse nicht zuletzt auch dadurch | |
erzielt, dass sich die Journalistinnen erkennbar Zeit für die Menschen und | |
ihre Lebensgeschichte genommen haben. Nicht jeder Autorin und jedem Autor | |
gelingt es wie Nina Schulz bewegend, spannend und unter die Haut gehend, | |
vor allem aber anteilnehmend und doch mit der notwendigen | |
ReporterInnendistanz über NS-Verfolgte und ihren Kampf um Anerkennung und | |
Entschädigung zu berichten. Und ihre Hamburger Fotografenkollegin Elisabeth | |
Mena Urbitsch hat mit ihren Fotos die dicht am Menschen geschriebenen | |
Geschichten nicht nur bebildert, um dem Leser einen visuellen Eindruck der | |
interviewten Personen zu ermöglichen, sondern sie mit ihrer eigenen | |
Handschrift, ihrem subjektiven Blick durch das Kameraobjektiv, individuell | |
porträtiert. | |
## Für SS-Männer selbstverständlich eine Rente | |
Während in Deutschland SS-Männer Renten erhalten, auch wenn sie als | |
ausländische Staatsbürger in deutschen Diensten und Teil eines | |
Verbrecherregimes waren, haben rund 20 Millionen NS-Opfer in Europa und der | |
ehemaligen Sowjetunion keine Entschädigung für Diskriminierung, | |
Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Misshandlung von der Bundesrepublik | |
Deutschland, dem Nachfolgestaat des NS-Unrechtregimes, erhalten. | |
Die Mehrheit ist inzwischen verstorben. Schulz und Urbitsch haben mit ihren | |
Reportagen einigen wenigen – stellvertretend – ein Denkmal gesetzt. Einer | |
davon ist Argyris Sfountouris. Der Überlebender des SS-Massakers am 10. | |
Juni 1944 in Distomo in Griechenland klagt: „Die deutsche Politik muss sich | |
mit den Opfern als Menschen beschäftigen. Wir sind kein Abstraktum.“ Und | |
viele sind noch immer nicht – wenigstens finanziell – entschädigt. | |
Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch: „Spiel auf Zeit. NS-Verfolgte und | |
ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung“. Assoziation A, Hamburg 2016, | |
366 Seiten, 24 Euro | |
28 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Hans-Ulrich Dillmann | |
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