| # taz.de -- Terrorismus wird Alltag und Hysterie auch: In Demut trauern | |
| Globetrotter | |
| von Elise Graton | |
| Kaum in Montréal gelandet, und schon fliegt mein Herz zurück nach | |
| Frankreich“, postet meine Freundin M. am frühen Freitagmorgen auf | |
| Facebook. Zum erneuten Blutbad in meiner Heimat herrscht zunächst in der | |
| Timeline bemerkenswerte Stille: keine Statements, keine aus Solidarität | |
| geänderten Profilfotos, keine massenweise geteilten symbolträchtigen | |
| Illustrationen, nichts. | |
| Die paar JournalistInnen, denen ich folge, beginnen erst gegen Mittag zu | |
| posten. Sie bemängeln vor allem den Voyeurismus der Medien, allen voran der | |
| Fernsehanstalten, die noch während der Nacht des Anschlags explizite Bilder | |
| vom Tatort ausstrahlten – vorbei an der Würde der Opfer und deren | |
| Angehörigen. Auch die hastige Schlussfolgerung der französischen Regierung, | |
| es handle sich zweifelsohne um einen Terrorakt, obwohl Informationen zu | |
| Täter und Motiv noch fehlen, lässt einige den Kopf schütteln. Und wie | |
| konnte sich ein tonnenschwerer Laster der Wachsamkeit der seit November | |
| massiv aufgebotenen Sicherheitskräfte im gesperrten Stadtgebiet entziehen?, | |
| wird gefragt. | |
| Am Samstag reklamiert der „Islamische Staat“ den Anschlag bereits für sich: | |
| Ein Tunesier bringt 84 Menschen um, am Gedenktag der Französischen | |
| Revolution, passt schon. Es sei zu bezweifeln, der IS würde die Tat eines | |
| Amokläufers für sich beanspruchen, sagt der Journalist und | |
| Dschihadismusexperte David Thomson im Interview mit der Zeitung Nice-Matin. | |
| Frühere Gelegenheiten zu solchem Opportunismus wurden nicht ergriffen. | |
| Daher kann man in Kürze mit Beweisen für eine IS-Verbundenheit rechnen. | |
| Noch bevor das passiert, verkündet Frankreichs Innenminister Bernard | |
| Cazeneuve, erste Verhöre im Umfeld des Psychopathen sprächen für seine | |
| Blitzradikalisierung. Abends, am Brandenburger Tor, findet dennoch im | |
| Rahmen des deutsch-französischen Festes das Gratiskonzert des französischen | |
| Pop-Duos Air statt. Ich ziehe meine alte Militärjacke an und ziehe sie | |
| gleich wieder aus. Wenn ich mir schon Gedanken darüber mache, ob meine | |
| Kleidung plötzlich unangemessen wirken könnte, brauche ich gar nicht erst | |
| auszugehen. | |
| Ob der IS neue Wege zur Rekrutierung seiner Gefolgsleute einschlägt oder | |
| nicht, dem französischen Staat fällt nichts Besseres ein, als die | |
| „patriotischen Franzosen“ zum Reservistendienst aufzurufen. Ist das Volk | |
| mit solch hysterischen Einfällen zu beruhigen? Keine Ahnung. Möglicherweise | |
| stehen die Freiwilligen ja bereits Schlange vor den Ämtern des | |
| Innenministeriums. Es war abzusehen, dass es zu neuen Anschlägen kommen | |
| würde, so defätistisch das klingen mag, und es wird weitere geben. Noch | |
| mehr Sicherheitskräfte werden das Problem des Terrorismus aber nicht lösen, | |
| sondern nur verschärfen, wenn sich nicht zeitgleich ernsthaft mit dessen | |
| Wurzeln auseinander gesetzt wird. Sich mit erheblichen Mitteln in die | |
| Bekämpfung der Täter zu verbeißen, statt zunächst einmal einzuräumen, das | |
| sei auch das Ergebnis angestauter nationaler Ressentiments – damit | |
| orchestriert Frankreich seinen Untergang selbst und spielt dem IS in die | |
| Karten. | |
| Eine andere Sprache als die des Krieges muss dringend entwickelt werden. | |
| Ein Aufgebot von engagierten Kräften im Bereich der Bildung, Sozial- und | |
| Kulturarbeit wäre vielleicht schon mal ein Anfang – wenngleich nicht so | |
| medienwirksam. | |
| Elise Graton ist freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin | |
| 19 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Elise Graton | |
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