# taz.de -- The Weltuntergang will be televised | |
> event Ein Film entsteht, und jeder darf Statist sein. Das Nature Theatre | |
> of Oklahoma arbeitet im Rahmen von Foreign Affairs an Horror- und | |
> Science-Fiction, das Publikum spielt mit in „Germany Year 2071“ | |
Bild: Pyjamas für alle wurden bereitgestellt, Garderobe für „Germany Year 2… | |
von Sascha Ehlert | |
„Willst du dir nicht auch einen Schlafanzug anziehen?“ Ich scheine verwirrt | |
dreinzuschauen. „Du willst doch an dem Dreh teilnehmen, oder?“ Will ich? | |
Oder besser: sollte ich? Natürlich will ich kein Statist sein in einem | |
Film, der eigentlich eine theatrale Performance ist, sondern darüber | |
schreiben. Es ist Tag 1 des Foreign Affairs Festivals 2016 am Haus der | |
Berliner Festspiele in Wilmersdorf. Festivalleiter Matthias von Hartz wird | |
im nächsten Jahr das „Athens & Epidaurus Festival“ in Griechenland mit | |
kuratieren. Zuvor hieß das Thema seines Programms: Uncertainty. | |
Ungewissheit ist ein gutes Stichwort: Schlafanzug oder kein Schlafanzug? | |
Ich lasse mich an einen Kleiderständer führen, auf dem Seidennachthemden, | |
ausgeleierte Frotteehosen und lange T-Shirts hängen. Um mich herum: | |
typische Kulturbürger zwischen vierzig und Ende fünfzig, teilweise haben | |
sie ihre Pyjamas selbst mitgebracht. Der Rest des Publikums besteht aus | |
jenen polyglotten Weltbürgern, an die Chris Dercon denken dürfte, wenn er | |
davon spricht, dass seine neue Volksbühne der Internationalisierung Berlins | |
Rechnung tragen soll. | |
Es wird Englisch gesprochen. Geht man nachher noch zu William Kentridge? | |
Nimmt man jetzt einen Cappuccino oder doch eher einen Cold Brew Espresso? | |
Das ist der Albtraum der Hegemänner, wie die Verteidiger der Bastion | |
Volksbühne letztens in einem Artikel despektierlich genannt wurden. Ich | |
bekenne, auch so ein Pessimist zu sein, der mit der Castorf-Volksbühne eine | |
der letzten Bastionen jener Stadt fallen sieht, in der man aufwuchs und die | |
man nicht gehen lassen will. Deshalb traue ich meinem harschen Urteil über | |
das, was das Nature Theatre Of Oklahoma nun auf dem Vorplatz der Berliner | |
Festspiele mit all den Schlafanzugträgern anstellt, auch nicht ganz. | |
Pavol Liska und Kelly Cooper erklären es dem Event-Publikum: Sie alle seien | |
Darsteller in einem Filmprojekt der New Yorker Künstler, und eigentlich | |
spielen alle sich selbst: verunsicherte Bundesbürger, die Angst um den | |
Fortbestand jenes Gesellschaftsmodells haben, das für sie das einzig | |
denkbare ist. | |
Von hier aus spulen die beiden Amerikaner vor ins Jahr 2071, wo noch immer | |
gilt: „Deutschland befindet sich kurz vor dem gesellschaftlichen und | |
wirtschaftlichen Zusammenbruch. Revolutionen kommen und gehen wie | |
Sommerstürme, einst willkommen geheißene Aliens werden gezüchtet und für | |
die Fleischproduktion verwertet.“ | |
Die Zuspitzungen, die das Nature Theatre schon in der Anlage für sein | |
Filmprojekt vornimmt, sind einfach gedacht und lassen wenig Spielraum für | |
Interpretationen. Der Mittelschicht wird mit theatralischen Mitteln der | |
Spiegel vorgehalten, so weit, so bekannt. | |
Pavol Liska erklärt den Laiendarstellern nun ihren Job. Flüchten sollen | |
sie, und zwar vor einem Monster, das seit Jahrtausenden im Sumpfland, auf | |
das Berlin gebaut wurde, schlief. Wenige Minuten später rennen 70, 80 | |
Pyjama-Menschen kreischend über die Schaperstraße. Ich hingegen, um den | |
Schlafanzug habe ich mich selbstverständlich gedrückt, stehe daneben und | |
nippe an meinem Wodka-Ingwer-Traubensaft-Gemisch, sponsored by Absolut | |
Vodka. Schwups, ist man Teil des marktkonformen Event-Zirkus. | |
Die Dreharbeiten für „Germany 2071“ laufen noch bis zum kommenden | |
Wochenende. Das Ganze scheint ein großer Spaß zu sein, zumindest wenn man | |
dem Internet vertraut. Zwar bespielte das Nature Theatre in den letzten | |
Tagen unter anderem eine Schlammgrube, das künftige Haus der Zukunft am | |
Spreeufer und das Silent Green Kulturquartier im Wedding, am besten | |
verfolgt man die Aktion aber vor dem Bildschirm. | |
Vor Ort sieht man stets nur Bruchstücke. Das düstere Gesellschaftsgemälde, | |
das die Künstler heraufbeschwören, erkennt man erst über die in kleine Bits | |
& Pieces zersplitterte Inszenierung, die mit Fotos auf Facebook, Kurzvideos | |
auf Vimeo und Blog-Posts auf der Webpräsenz der Kunstzeitschrift Monopol | |
arbeitet. Kurz vor dem Ende der Dreharbeiten blickt man so auf ein schlecht | |
zu fassendes Etwas, das zwar das Theater auf die Straße holt, die Stadt | |
Berlin aus Schauplatz bespielt, an die Populärkultur andockt, mit dem Netz | |
arbeitet und Kritik äußert, wo Kritik notwendig ist, aber dennoch als | |
Kunstwerk keine Durchschlagskraft besitzt. | |
13 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Sascha Ehlert | |
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