# taz.de -- Europa, noch immer ein Möglichkeitsraum : Wer bringt den Müll weg? | |
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von Aram Lintzel | |
Was für ein Timing. Exakt am Tag des Brexit-Schocks lag der Reader „Euro | |
Trash“ (Merve Verlag) im Briefkasten. Hinter der rötlich-braunen Schrift | |
waren münzenähnliche Glitzerobjekte zu erkennen. | |
Warum „Euro Trash“? Soll das ein Kommentar zur rechtspopulistischen | |
Hässlichkeit Europas sein? Steht der Titel für eine zugemüllte Gesamtlage, | |
der es ins Auge zu schauen gilt, anstatt den Verfall mit Projektionen auf | |
kernig-reine isländische Kicker zu verleugnen? Oder geht es um ein | |
utopisches Szenario: Banker und Proleten bringen in den Urlaubsdiscos bei | |
Euro-Trash-Rhythmen eine egalitäre Öffentlichkeit hervor? | |
Eine Antwort auf die Titelfrage geben die Herausgeber Svenja Bromberg, | |
Birthe Mühlhoff und Danilo Scholz nicht. Aber ihre Zusammenstellung vieler | |
älterer und einiger neuer Theorietexte über Europa verbreitet | |
kontrafaktischen Optimismus. Die Autoren begeben sich nicht in Debatten | |
über institutionelle Arrangements und beschreiben Europa als Bewegung, | |
nicht als fixe Ordnung. Die Falle des Identitären („Wir Europäer“) wird | |
umgangen, stattdessen machen sie eine „universalistische Tendenz“ aus, die | |
die empirische Dürftigkeit der real existierenden EU stets überschreitet. | |
Toni Negri sagt: „Europas emanzipatorisches Potenzial besteht darin, mehr | |
zu sein als eine transnational aufgeblähte repräsentative Demokratie.“ Auch | |
das Interview mit Negri zeigt, dass noch die schärfsten Kritiker zugleich | |
„überzeugte Europäer“ sind, weil sie sich auf europäischen Universalismus | |
beziehen. Es gibt kein normatives Außen, dem Eurozentrismus ist nicht zu | |
entkommen. Doch dementiert dies die europäische Idee nicht. Energisch | |
wendet sich Negri gegen eine politische Vergesslichkeit, die von der | |
pazifistischen Gründungsidee nichts mehr wissen will. Was das Ressentiment | |
gegenüber praktischer Politik (‚Brüsseler Technokraten!‘) angeht, | |
kritisiert er nicht nur die neuen Nationalisten, sondern auch jene | |
Waldschrat-Linke, die auf „abstrakte Weigerung“ setzt. Beide verkennen, | |
dass Gerechtigkeit nur transnational zu erkämpfen ist. Es setzt voraus, | |
schreibt der Philosoph Étienne Balibar, „dass dem zukünftigen europäischen | |
Volk größere Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung und der | |
Kontrolle der Macht durch die Masse der Bürger eingeräumt werden, als das | |
bislang in den demokratisch verfassten Nationalstaaten der Fall war“. | |
Ob das ausreicht? Was wir vielerorts erleben, ist ja Demokratisierung ohne | |
ein Mehr an Demokratie. Demokratisch gewählter Rassismus ist nicht | |
demokratisch. Eine aufschlussreiche Notiz von Alexander Kojève von 1950 | |
gibt hegelianische Hoffnung angesichts von rechter Regression. In seiner | |
„Notiz für die Menschheit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ schrei… | |
der Philosoph über die europäische Idee: „Staatsmänner und Regierungen | |
können selbst dann zu der Verwirklichung eines historischen (=vernünftigen) | |
Ziels beitragen, wenn sie sich dessen nicht bewusst sind oder glauben, der | |
Verwirklichung dieses Ziels aktiv entgegenzuwirken.“ Boris Johnson und | |
Victor Orbán als Agenten des Euro-Weltgeistes? | |
## Angenehm zurückhaltend | |
Ein schlagkräftiges Narrativ, das den Identitätsdiskursen der Rechten | |
entgegengesetzt werden könnte, liefert „Euro Trash“ nicht. Angenehm | |
zurückhaltend lotet der Band den Möglichkeitsraum Europa aus. Sieht man mal | |
ab vom Kulturpessimismus des Centre-Pompidou-Hausphilosophen Bernard | |
Stiegler über die Verblödung der Massen durch Werbung und TV – er spricht | |
von „systemischer Dummheit“ –, weisen die Texte ins Offene und deuten | |
utopische Fluchtlinien in der angeblichen Festung Europa an. „Das Leben | |
durchkreuzt […] fortwährend das konzeptuelle Ordnungsbedürfnis des | |
internationalen Rechts“, schreibt Gracie Mae Bradley in ihrem Beitrag zur | |
Flüchtlingspolitik. | |
Was hat es mit dem kokett-poppigen Titel und Glitzercover auf sich? Beides | |
ist Lockmittel für all jene, die sich von staatstragenden Plädoyers für | |
„mehr Europa“ nicht angesprochen fühlen. Gewiss schadet es dabei nicht, Pop | |
und Glamour zumindest zu behaupten. Am Ende bleibt gleichwohl die wenig | |
glamouröse Frage, wer jetzt den Müll wegbringt. | |
Der Autor ist Referent für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis | |
90/Die Grünen und Publizist | |
12 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Aram Lintzel | |
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